Dr. Christoph Hueck
IMAGINATIVE MENSCHENKUNDE
Teil I. Die menschliche Gestalt

Die Pädagogik Rudolf Steiners beruht auf einer umfassenden Erkenntnis des werdenden Menschen. Es kommt dabei allerdings nicht nur auf das Wissen über die Entwicklungsgesetzmäßigkeiten an, sondern vor allem darauf, dieses Wissen in Anschauungen zu verwandeln, aus denen pädagogische Einfälle hervorgehen können. Hier und in folgenden Beiträgen wird versucht, das anthroposophische Wissen über den Menschen und seine Entwicklung so darzustellen, dass daraus imaginative Anschauungen entstehen können.
Je besser man die Entwicklung des Kindes bis zur Reife versteht, umso mehr kann man pädagogisch förderlich wirken. Man kann dann bewusst im Verein mit den Entwicklungskräften arbeiten. Jede Entwicklungsphase hat ihre Bedeutung, und wenn die in ihr wirkenden Kräfte gefördert werden, stärkt man den Menschen für sein ganzes Leben.
Das anthroposophische Verständnis der kindlichen und jugendlichen Entwicklung darf jedoch nicht bloß theoretisch sein, wenn es pädagogisch fruchtbar werden soll. Wenn man die leiblichen, seelischen und geistigen Entwicklungsschritte nicht wirklich beobachten und miterleben kann, nützten auch die schönsten Erklärungen wenig. Tote Theorie führt nicht zu pädagogischen Intuitionen, lebendige Anschauung aber schon.
Um die menschliche Entwicklung in Kindheit und Jugend zu verstehen, ist es notwendig, den Menschen überhaupt zu verstehen.
Man lernt das menschliche Wesen nicht in einem passiven Wissen kennen. Wissen vom Menschen als Grundlage der Pädagogik muß anfangen zu leben, indem man es aufnimmt. Man lernt das menschliche Wesen nicht in einem passiven Wissen kennen. Wissen vom Menschen als Grundlage der Pädagogik muß anfangen zu leben, indem man es aufnimmt.(1) Rudolf Steiner
Imaginative Anschauung des Menschen
Für die äußere Auffassung entstehen wir mit der Zeugung und verschwinden mit dem Tod. Unsere individuellen Eigenschaften, unser Leben und Bewusstsein können, so glaubt man, durch die Gene und durch das Gehirn erklärt werden, und unsere psychologische Entwicklung soll sich durch die Auseinandersetzung angeborener Verhaltensmuster mit den Einflüssen der Umwelt bilden. Dieses materialistische Menschenbild ist jedoch nicht nur unvollständig, sondern falsch. Gene setzen nämlich den lebendigen Organismus immer schon voraus, Bewusstsein ist etwas ganz anderes als die elektrischen Prozesse des Gehirns, und die individuellen Anlagen, Interessen und Fähigkeiten eines Menschen sind weder aus der Kombination der Erbsubstanzen seiner Eltern noch aus seiner Umgebung zu erklären. Gene, Gehirn, Vererbung und Umwelt sind allesamt notwendige Voraussetzungen, aber keine hinreichenden Erklärungen für das Leben und die Entwicklung des Menschen.
In Ergänzung und in Korrektur der naturwissenschaftlichen Auffassung hat Rudolf Steiner eine innere Anschauung des Menschen entwickelt, die er „imaginativ“ nannte. Imagination bedeutet hier, dass man den Menschen zunächst innerlich erlebend in Bildern „anschaut“ und dann seine äußere Erscheinung mit dieser inneren Erfahrung beleuchtet. Auf diese Art kann man lernen, mehr zu „sehen“ als durch bloße sinnliche Wahrnehmung. Die inneren Bilder zeigen reale Zusammenhänge, die man nicht mit physischen Augen sehen kann. Man kann deshalb auch von einem „lesenden Verstehen“ des Menschen sprechen.
Die menschliche Gestalt: eine Komposition
Betrachten wir zunächst die menschliche Gestalt. Sie gliedert sich in den Kopf, den Rumpf und die Gliedmaßen. Den Kopf kann man als eine Kugel ansehen, während die Gliedmaßen strahlig gebildet sind. Der Kopf ruht, die Gliedmaßen sind beweglich. Der Kopf erscheint als eine Einheit, die Gliedmaßen als Vielheit. Der Kopf ermöglicht uns das bewusste Erleben einer Innenwelt, die Glieder unsere Tätigkeit nach außen. Die Schädelknochen schützen, die Gliedmaßenknochen stützen. Man könnte diese Liste noch fortsetzen. Kopf und Glieder erscheinen als eine vollständige Polarität.
Im Bereich des Rumpfes durchdringen sich die beiden polaren Bildungsprinzipien des Kopfes und der Glieder in rhythmischer Weise: Die Einheit des Brustkorbes wird aus einer Vielzahl radialer Elemente (Rippen) gebildet, die von Muskulatur umgeben sind. Die Wirbelsäule, die als Ganze den radialen Gliedmaßen ähnelt, besteht aus kopfähnlichen, gedrungenen Elementen (Wirbel), die wie der Schädel einen nervenerfüllten Hohlraum schützend umschließen. Der Brustkorb ist relativ starr, jedoch nicht so starr wie der Kopf, die Wirbelsäule relativ beweglich, jedoch nicht so beweglich wie die Glieder.
Wenn wir den Menschen in dieser phänomenologischen Art anschauen, erblicken wir eine klare Ordnung: Zwei polare Bildungsprinzipien, die eine Mitte bilden, indem sie sich gegenseitig rhythmisch durchdringen. Die menschliche Gestalt ist kein zufällig zusammengewürfeltes Produkt einer blinden Evolution, sondern eine sinnvolle Komposition. Dem imaginativen Blick erscheint sie wie ein Gedicht der Welt.
Form und Bewegung
Der Kopf ist (bis auf den Kiefer, der eine verkleinerte Gliedmaße ist) starr und stark durchgeformt. Hier finden sich die härtesten Knochen (Felsenbein) und Substanzen (Zahnschmelz) des Körpers. Unsere Vorstellungen, die wir mit dem Kopf erfassen, sind ebenfalls klar konturiert. Sie liegen unserem Gegenstandsbewusstsein zu Grunde und sind – ähnlich wie die Knochenformen des Kopfes – starr und vergleichsweise tot. Wir sprechen von einem toten Wissen, wenn wir nur fertige Definitionen im Kopf haben. Der Vorteil der klaren Konturierung und des Abgestorbenseins ist allerdings, dass wir in den Vorstellungen ganz wach sein können.
In unseren Gliedern sind wir beweglich und lebendig. Im Tun können wird aus einer inneren Kraft heraus immer wieder neu beginnen. Handeln ist schöpferisch: Jede noch so kleine Tat ist ein neuer Impuls, der in die Zukunft wirkt. Aber auch im Denken und Vorstellen können wir schöpferisch werden, wenn wir unsere toten Vorstellungen mit innerem Willen durchströmen, wenn wir sie phantasievoll und lebendig aus- und umgestalten.
Gewöhnliche Vorstellungen sind Endprodukte: Wenn man etwas verstanden hat, ist es bereits geschehen. Der Wille, der in den Gliedmaßen wirkt, ist dagegen immer ein Keim für Künftiges. Die Waldorfpädagogik regt deswegen insbesondere die Willenskräfte der Kinder und Jugendlichen an. (Der Unterschied von Verstand und Willen und seine pädagogische Bedeutung wird in einem folgenden Beitrag besprochen.)
Der Mensch zwischen Kosmos und Erde
Man darf in der Natur nichts allein für sich betrachten, denn die Umwelt gehört immer mit dazu. So steht der Mensch auf der Erde und hebt sein Haupt in die Sphäre des Lichts, des „Kosmos“. Die Beine zeigen in ihrer Gestalt und in ihren Bewegungen die Wirkung der Kräfte der Erde, während der kugelförmige Kopf imaginativ als ein Abbild des Kosmos angesehen werden kann. Wie die Bewegungen der Gliedmaßen im Schwerefeld der Erde wirken, so erscheint das Denken des Kopfes in seiner Helligkeit wie das Licht der Sonne und in seiner inneren Logik wie die Gesetze der Sternenwelt. In unserer Mitte aber, in Herz und Händen, sind wir vollkommen frei. Dort verbinden wir uns im Geben und Nehmen mit unserer Um- und Mitwelt.
Man versteht die menschliche Form, wenn man sie begreifen will aus dem Zusammenwirken der Erde mit dem Kosmos. Es ist ganz wunderbar, wie der Mensch ein Ausdruck ist des ganzen Weltalls, und wie er zu gleicher Zeit ein Abbild ist derjenigen Kräfte, die aus der Erde herausströmen.(3) Rudolf Steiner
Der Mensch in der Zeit
Nach Rudolf Steiner kann man die menschliche Gestalt auch in zeitlicher Weise „lesen“. Als Steiner 1916/17 nach 30-jähriger Forschung die Dreigliederung des Menschen zum ersten Mal darstellte, erläuterte er sie auch im Zusammenhang mit der Reinkarnation. Steiners Gedanke dazu ist zwar nicht einfach zu verstehen, aber er ermöglicht eine sehr interessante Sicht auf den Menschen.
Der Kopf, so Steiner, ist ein Produkt unserer Vergangenheit, unseres letzten Lebens. Sowohl seine individuelle Gestaltung als auch die Art, wie man ihn benutzt, das heißt wie man wahrnimmt und denkt, was einen interessiert und wie man es verarbeitet, ist eine Umwandlung dessen, was man mit seinen Gliedern im letzten Leben getan hat. Durch die Art, wie wir unsere Gliedmaßen bewegen, das heißt wie und aus welchen Intentionen wir handeln, bereiten wir unsere zukünftige Kopfform vor. Der Kopf: Vergangenheit; die Glieder: Zukunft.
Dasselbe gilt auch für Vorstellungen und Willenstätigkeiten: Vorstellungen sind aus der Vergangen bestimmt, der Wille wirkt in die Zukunft. Ganz in der Gegenwart leben wir im Fühlen, im rhythmischen System der Mitte.
Man sieht daraus, welche Bedeutung das individuelle Tun für die zukünftige Entwicklung der eigenen Persönlichkeit und im weiteren Sinne auch für die der Menschheit hat.(4)
Freiheit und Liebe
Denken und Wollen, Vorstellen und Tun wirken im Menschen zusammen und ineinander. Wenn das Denken immer stärker von eigener Aktivität durchdrungen und damit immer selbstständiger wird, wenn man eben selbst denkt (und sich nicht von anderen sagen lässt, was man denken soll), dann entwickelt man immer mehr innere Freiheit. Wenn umgekehrt das Tun immer mehr vom Denken geleitet wird, das heißt von dem, was man als sinnvoll erkennt (was also den Anforderungen der Außenwelt und der Harmonie mit ihnen entspricht), dann entwickelt man immer mehr Liebe. Freiheit und Liebe, das sind die beiden großen Ziele des Menschseins.
Wir entwickeln in unserem Handeln Liebe dadurch, daß wir die Gedanken hineinstrahlen lassen in das Willensgemäße; wir entwickeln in unserem Denken Freiheit dadurch, daß wir das Willensgemäße hineinstrahlen lassen in die Gedanken. So wachsen im Menschen die zwei größten Ideale zusammen, Freiheit und Liebe.(4) Rudolf Steiner
Um diese Ziele verwirklichen zu können, haben wir von der geistigen Welt eine Gestalt erhalten, durch die wir „Himmel“ und „Erde“, Vergangenheit und Zukunft miteinander verbinden. Das ist die Voraussetzung für unsere innere Entwicklung. Denn indem wir in der Polarität von Kopf und Gliedern, von Erkennen und Handeln, von Licht und Materie leben und sie verweben, erfüllen wir unsere Mission: Die Arbeit an einer neuen Welt, die aus Freiheit und Liebe gestaltet wird.(5)
Literatur
1 Rudolf Steiner: Der Goetheanumgedanke inmitten der Kulturkrisis der Gegenwart. Gesammelte Aufsätze 1921-1925 aus der Wochenschrift Das Goetheanum. GA 036, Dornach 1961, S. 288, 01.04.1923
2 Rudolf Steiner: Anthroposophische Leitsätze. Der Erkenntnisweg der Anthroposophie. Das Michael-Mysterium. GA 026, Dornach 1989, S. 186, 18.01.1925
3 Rudolf Steiner: Die Brücke zwischen der Weltgeistigkeit und dem Physischen des Menschen. Die Suche nach der neuen Isis, der göttlichen Sophia. GA 202, Dornach 1993, S. 21, 26.11.1920
4 Zur Vertiefung dieses komplexen Gedankens siehe https://publish.obsidian.md/anthropologie/I.+Themen/Reinkarnation/Reinkarnationsmetamorphose
5 GA 202, S. 205, 19.12.1920