Eine Herausforderung für die Pädagogik
Zur Medienpädagogik ist in waldorfpädagogischen Zusammenhängen in den letzten Jahren sehr viel geforscht und publiziert worden.[1] In einer dreiteiligen Artikelserie wird diese Thematik um eine neue, bisher wenig beachtete Perspektive ergänzt.
In Teil I haben wir uns mit der durch die Digitalisierung und die entsprechenden Anwendungen (vor allem durch mobile Geräte) verursachten Durchmischung von Arbeits- und Lebenswelt beschäftigt. Diese Vermischung der Lebenswelt der Anwender mit der Arbeitswelt der Digitalindustrie ist den meisten Menschen völlig unbewusst. Die gesundheitlichen Folgen kann man sich leicht klar machen und wohl auch am eigenen Leibe erleben: Müdigkeit und Erschöpfung, keine wirkliche Erholung mehr, auch im Urlaub nicht – weil uns die digitalen Geräte, sofern wir sie nicht wirklich abschalten, permanent und auf Schritt und Tritt begleiten.
Dieses Verhalten muss für Kinder und Jugendliche besonders gravierende Folgen haben, da sie einen großen Teil ihrer Lebenskräfte ja noch für ihre körperliche Entwicklung, aber auch für die seelische Reifung benötigen. Werden diese Kräfte frühzeitig durch die Nutzung digitaler Medien verbraucht, stehen sie für die leiblich-seelische Entwicklung nicht mehr zur Verfügung. Man kann diese Ausbeutung von Lebenskräften als eine moderne Form von „Kinderarbeit“ bezeichnen.
Wie stellt sich die Pädagogik Rudolf Steiners zu diesen Phänomenen?
Es ist wohl vielen Menschen, die die Waldorfpädagogik schätzen, bekannt, dass Rudolf Steiner besonderen Wert auf die Beziehung der Schüler zur Arbeitswelt gelegt hat. Denn die Schüler der ersten Waldorfschule kamen ja nicht nur aus dem Milieu der Arbeiter der Waldorf Astoria-Zigarettenfabrik. Steiner war es wichtig, dass die Schule immer in Beziehung zum realen Leben, also auch zum Wirtschaftsleben stehen sollte.
Allerdings sollte das Wirtschaftsleben keinerlei regulierenden Einfluss auf die Unterrichtsinhalte haben, denn diese sollen sich einzig und allein an der Entwicklung der Kinder orientieren.
Da aber jeder Mensch und mithin auch die Schule Teil eines sozialen Ganzen ist, sollten die Schüler innerhalb der Schule eben auch am sozialen Leben, also auch am Wirtschaftsleben Anteil nehmen. Steiner äußerte sich anlässlich der Begründung der ersten Waldorfschule in einem Aufsatz dazu sehr konkret:
„Die Art, wie sich die moderne Industrie in die Entwickelung des menschlichen Gesellschaftslebens hineingestellt hat, gibt der Praxis der neueren sozialen Bewegung ihr Gepräge. Die Eltern, die ihre Kinder dieser Schule anvertrauen werden, können nicht anders als erwarten, dass diese Kinder in dem Sinne zur Lebenstüchtigkeit erzogen und unterrichtet werden, der dieser Bewegung volle Rechnung trägt. (…) Die Kinder sollen zu Menschen erzogen und für ein Leben unterrichtet werden, die den Anforderungen entsprechen, für die jeder Mensch, gleichgültig aus welcher der herkömmlichen Gesellschaftsklassen er stammt, sich einsetzen kann…
Verhängnisvoll müsste es werden, wenn in den pädagogischen Grundanschauungen, auf denen die Waldorfschule aufgebaut werden soll, ein lebensfremder Geist waltete. Ein solcher tritt heute nur allzu leicht dort hervor, wo man ein Gefühl dafür entwickelt, welchen Anteil an der Zerrüttung der Zivilisation das Aufgehen in einer materialistischen Lebenshaltung und Gesinnung während der letzten Jahrzehnte hat. Man möchte, durch dieses Gefühl veranlasst, in die Verwaltung des öffentlichen Lebens eine idealistische Gesinnung hineintragen. Dennoch ist gerade in einem solchen Falle nötig, darauf hinzuweisen, wie der beste Wille versagen muss, wenn er an die Verwirklichung von Absichten geht, ohne die auf Sacheinsicht begründeten Voraussetzungen in vollem Maße zu berücksichtigen.
Damit ist eine der Forderungen gekennzeichnet, die heute bei Begründung einer solchen Anstalt in Betracht kommen, wie die Waldorfschule eine sein soll. In ihrem pädagogischen und methodischen Geiste muss Idealismus wirken; aber ein Idealismus, der die Macht hat, in dem aufwachsenden Menschen die Kräfte und Fähigkeiten zu erwecken, die er im weiteren Lebensverlauf braucht, um für die gegenwärtige Menschengemeinschaft Arbeitstüchtigkeit und für sich einen ihn stützenden Lebenshalt zu haben.“[2]
Daher wurden im Laufe der weiteren Entwicklung der Waldorfschule schon bald verschiedene, zum Teil mehrwöchige Praktika wie das Landwirtschaftspraktikum, das Industriepraktikum und weitere der Arbeitswelt zugewandte Praktika eingerichtet.
Übertragen auf unser digitales Zeitalter bedeutet das, dass die Kinder und Jugendlichen auch die heutige digitale Arbeitswelt im Laufe ihrer schulischen Ausbildung kennen und verstehen lernen sollten.
Digitale Medien nicht als Lernmittel, sondern als Unterrichtsgegenstand
Um die digitalen Medien und Maschinen in diesem Sinnen kennenzulernen, sollten diese ab einem entsprechenden Alter im Unterricht behandelt und praktisch gehandhabt werden. Dazu gehört auch ein Verständnis für die historische Entwicklung der Digitalisierung, ihre informatischen Grundlagen und ihre soziale Bedeutung in der heutigen Zeit.
Das alles bedeutet aber nicht, dass digitale Medien nun auch als didaktische Mittel im Unterricht eingesetzt werden sollten. Natürlich können die Schüler ihre Hausarbeiten auf einem PC anfertigen, sofern sie zuvor des handschriftlichen Schreibens wirklich mächtig sind. Digitale Unterrichtsmittel wie etwa Lernprogramme, die darauf abzielen, den Lehrer zu ersetzen oder ihm seine Arbeit zu erleichtern, dienen jedoch nicht den oben genannten Zielen. Vielmehr halten dadurch Lernmittel Einzug in den Schulalltag, die mehr den wirtschaftlichen Interessen der Digitalwirtschaft als dem Wohle der Schüler dienen.
Die digital bestimmte Lebenswelt beherrschen lernen
Was aber geschieht nun mit der Lebenswelt der Schüler? Einerseits lernen sie im Unterricht die digital beherrschte Arbeitswelt kennen. Andererseits ist diese Arbeitswelt, wie oben beschrieben, immer mehr auch in die Lebenswelt der Kinder, also in ihren Alltag außerhalb der Schule massiv eingedrungen. Wie kann die Schule in dieser Situation helfen?
Angesichts der negativen gesundheitlichen Folgen der digitalen Herrschaft innerhalb der Lebenswelt (Stichwort Handy) muss es für die Schule und die Medienpädagogik vor allem darum gehen, den Schülern beizubringen, wie sie ihre Lebenswelt und mithin ihre Lebenskräfte schützen und entwickeln können. Dabei gilt es im medienpädagogischen Unterricht Methoden zu vermitteln, wie man der allseits sich ausbreitenden Sucht nach digitalen Medien durch entsprechende Disziplin, vor allem aber durch das Konzept der „Medienbalance“ begegnen kann.
Das heißt, dass jegliche Nutzung digitaler Medien immer in einem vor allem zeitlich bemessenen Gleichgewicht mit konkreten lebensweltlich-realen Tätigkeiten erfolgen sollte. Zeitliche Begrenzung ist eines der Hauptmittel, um dem Sog der digitalen Medien zu entkommen und sich vor ihren negativen Auswirkungen zu schützen. Dazu gehört natürlich auch die Aufklärung über die Risiken und immensen Gefahren, die den Kindern im Internet begegnen können. Dieser Aufklärung sollte im schulischen Rahmen mindestens derselbe Stellenwert beigemessen werden wie etwa der Verkehrserziehung oder dem Schwimmunterricht. Denn auch im Straßenverkehr und im Wasser drohen den Kindern reale Gefahren, die durchaus mit den Gefahren der Medienwelt, insbesondere aber des Internets zu vergleichen sind. -
Im abschließenden dritten Teil werden wir noch einen Blick auf die seit einem Jahr verbreitete künstliche Sprachintelligenz „ChatGPT“ werfen. Denn mit ihrer Einführung ging ein enormer Hype einher, der die Leistungen dieser Sprach-KI geradezu vergötterte. Auch in den Waldorfschulen hat ChatGPT Einzug in den Unterricht gehalten, weil vor allem die Schüler darauf drängten. Wir werden deshalb über den Sinn des Einsatzes von ChatGPT in der Schule sprechen und zeigen, wie man diese Form von nicht-menschlicher Intelligenz mit relativ einfachen Mitteln entzaubern kann.
Literatur und Anmerkungen
1 Vgl. dazu Edwin Hübner: Medien und Pädagogik – Gesichtspunkte zum Verständnis der Medien. Grundlagen einer anthroposophisch-anthropologischen Medienpädagogik. Stuttgart 2015.
2 Rudolf Steiner: Die pädagogische Grundlage der Waldorfschule. In: Rudolf Steiner in der Waldorfschule. GA 298, Dornach 1980, S. 9 ff.
Fotos: Marvin Meyer/Unsplash, David Bruyndonckx/Unsplash
Andreas Neider ist seit 2007 als Referent und Buchautor zu medienpädagogischen Fragen und zur kritischen Betrachtung der Digitalisierung unterwegs. Er kann zu Vorträgen und Seminaren auch an Ihre Schule eingeladen werden.
Website: www.andreasneider.de
Kontakt: aneider@gmx.de
Der Beitrag erschien in erWACHSEN&WERDEN 12/23, Dezember 2023
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