HOMESCHOOLING WAGEN - BILDUNG OHNE SCHULE?
Mit Svenja Herget, die u.a. den Telegram-Kanal „Homeschooling wagen“ betreibt, haben wir über häusliche Bildung gesprochen. Dabei ging es sowohl um ihre Erfahrungen während der Corona-Zeit als auch um die Frage, welche Rolle die Waldorfpädagogik in ihrem Dialog mit den Eltern spielte und spielt. Was erleben Eltern, wenn sie ihren Kindern – auch unabhängig von der Institution Schule – Bildung vermitteln wollen und welche Chancen lassen sich daraus für das bestehende Schulsystem ableiten.
Svenja, Dein Buch „Bildung ohne Schule kann gelingen“1 handelt u.a. von Eltern, die Homeschooling praktizieren. Darf man das in Deutschland überhaupt? Und was hat Dich dazu gebracht, ein Buch zu schreiben?
Dazu gibt es eine ganz klare Antwort: Nein. Homeschooling ist in Deutschland verboten und Freilernen ebenso.
Das Buch habe ich aufgrund der Erfahrungen geschrieben, die wir während der Coronakrise machen konnten. Man konnte damals sein Kind von der Präsenzpflicht befreien. Durch die freiwillige Testpflicht war es teilweise möglich, dass Kinder zuhause lernen konnten, manchmal nur in einem bestimmten Bundesland, manchmal nur für eine bestimmte Zeit. Jetzt ist das wieder sehr erschwert worden. Deshalb habe ich die Erfahrungen dieser zwei Jahre, der Coronazeit, in einem Buch zusammengefasst. Denn damit ist zum ersten Mal in Deutschland etwas geschehen, was es seit Einführung der Schulpflicht vor 100 Jahren nicht gegeben hat, dass nämlich eine große Zahl an Kindern zuhause lernt. Es gab schon immer einige 100 Freilerner und Homeschooler, die irgendwie durchgekommen sind, aber eben nicht in diesem Ausmaß, wo es zeitweise zehntausende solcher Kinder gab. Was es immer gab, waren Schulverweigerer und Schulschwänzer, also Kinder, die nicht in die Schule gehen wollten. Und das waren immer schon weit über 100.000, dafür gibt es auch Zahlen. Nach der Coronazeit haben viele Eltern einen anderen Blick auf Schule. Sie sagen: Wenn mein Kind nicht in die Schule gehen will, kann ich es nicht zwingen, denn Gewalt darf man ja gegenüber Kindern nicht anwenden. Das ist dann quasi das Tor oder die Möglichkeit, die Eltern heute finden. Andere Eltern gehen auf Reisen und viele Eltern, die ich begleite, sind auch im Ausland. Viele Deutsche sind mit ihren Kindern inzwischen ausgewandert in ein Land, in dem Homeschooling und Freilernen erlaubt sind. Wobei ich ungern von Homeschooling und Freilernen spreche, ich nenne es häusliches Lernen oder häusliche Bildung, um beide Gruppen zusammenzufassen, denn
ich bin überzeugt, dass jede Familie ihren eigenen Weg finden kann, und dass man die Wege nicht in Schubladen stecken muss.
Hast Du den Eindruck, dass es inzwischen mehr häusliches Lernen gibt als vor Corona, dass also mehr Eltern diesen Weg gehen, auch wenn es schwierig ist?
Es gibt auf jeden Fall mehr Familien, die häusliche Bildung pflegen als vor Corona, denn es war die Coronazeit, die vielen Eltern diese Möglichkeit eröffnete und damit überhaupt erst ins Bewusstsein gerufen hat, dass es das gibt. Als ich anfing, von meiner Bewegung „Homeschooling wagen“ zu erzählen, da haben vor allem die Männer oft nur so gesprudelt und von ihren negativen Schulerfahrungen erzählt. Viele Eltern erinnern sich jetzt an ihre eigene Schulzeit und sagen: Das will ich meinen Kindern nicht zumuten.
Du bist inzwischen eine Expertin für Homeschooling. Wie bist Du zu diesem Thema gekommen?
Vor fünf Jahren hätte ich nicht gedacht, dass ich mich mit diesem Thema beschäftigen würde. Es war letztlich die Coronazeit, die mir einen Bedarf gezeigt hat. Als 2020 plötzlich Kinder mit Abstand leben, sich ständig die Hände desinfizieren mussten, neue Regeln in Schulen eingeführt wurden, die dem kindlichen Dasein völlig widersprachen, als dann noch die Masken eingeführt wurden, wo Kinder keine Luft mehr bekamen, da habe ich gedacht: Man muss die Kinder zuhause lassen!
Ich habe mit meinen eigenen Kindern sehr viel zuhause gelernt, aufgrund unserer speziellen Situation. Außerdem bin ich Lehrerin, ich kenne den Lehrplan. Ich kann Eltern sagen, was im Lehrplan steht, was in der Schule überhaupt gemacht wird, das wissen doch die Eltern gar nicht. Ich habe beim häuslichen Lernen mit meinen Kindern gemerkt, dass man eben in ziemlich kurzer Zeit sehr viel aus dem Lehrplan bearbeiten kann, in viel kürzerer Zeit als in der Schule. Ich dachte, dass ich den Eltern diese Expertise und Erfahrung weitergeben kann, so hat es begonnen. Dann haben Eltern mich natürlich ständig gefragt, und ich habe meine Antworten oder meine Beiträge nach den Fragen der Eltern gestaltet. Dadurch war es immer ein lebendiger Austausch, das ist auch das Schöne an einem Kanal oder an einem Blog, dass man auf die Fragen antworten kann. Ich habe außerdem zwei Jahre lang wöchentlich ein kostenloses Online-Treffen angeboten, da konnten Eltern erzählen und Fragen stellen.
Ich habe alles durch den Dialog mit den Eltern entwickelt, aus dem Leben sozusagen, ich hatte kein Konzept.
Wenn man deinen Telegram-Kanal „Homeschooling wagen“ verfolgt, bemerkt man, dass Du auch mit der Waldorfpädagogik verbunden bist. Kannst Du beschreiben, welche Rolle die Waldorfpädagogik für Dich in dem Zusammenhang „häusliche Bildung“ spielt?
Das zentralste Element, das ich beim Homeschooling von der Waldorfpädagogik übernehme, ist das Lernen in Epochen. Wir nehmen ein Thema und arbeiten eine, zwei oder drei Wochen an diesem Thema, jeden Tag. Das ist den meisten Eltern, wenn ihre Kinder nicht an der Waldorfschule sind, ganz neu. Und ja, das macht Spaß. Man weiß genau, was auf einen zukommt. Die ganze Familie beschäftigt sich mit dem Thema. Griechenland oder Karl der Große oder dass man sich mal zwei, drei Wochen lang intensiv der Rechtschreibung widmet, anstatt immer montags um 12:15 Uhr und dann fällt's einmal aus, usw., sondern jeden Morgen – und viel mehr muss es dann auch gar nicht sein. So kann man im häuslichen Lernen eine Anregung von Rudolf Steiner aufgreifen, die sinngemäß etwa so lautet:
Jeden Tag eineinhalb Stunden für den „Kopf“, dann eineinhalb Stunden Kunst und dann können Sie noch Märchen erzählen.
Die anderthalb Stunden „Kopf“ sind das jeweilige Thema. Anschließend kann man noch etwas anderes machen, z.B. im Handwerklichen.
Das Zweite ist der Wert der Geschichten. In der Waldorfpädagogik gibt es den „Erzählstoff“, das heißt, dass in bestimmten Altersstufen bestimmte Geschichten und Erzählungen eine besondere Rolle spielen und dann auch als Unterrichtsinhalt gelten. Das können Eltern doch wunderbar machen! Sie erzählen oder lesen Geschichten vor. Dann noch weitere Lerninhalte der Waldorfpädagogik, die zeigen, man kann es auch ganz anders machen und trotzdem lernen die Kinder etwas. Das sage ich jetzt für die Männer, die oft diese Frage haben. Trotzdem kann man das Abitur machen, obwohl man es natürlich gar nicht muss. Weitere Lerninhalte der Waldorfschule sind Stricken, Singen, Musik, Gartenbau usw., all das sind Dinge, die man wunderbar in den Alltag integrieren kann. Wir erzählen abends vor dem Einschlafen eine Geschichte. Wir singen einfach mehr, wir sitzen zusammen mit unseren Kindern und stricken, usw. Und dabei erfüllen wir nebenbei den Lehrplan der Waldorfschule. Ich habe zwar die Ausbildung zur Waldorflehrerin gemacht, habe aber nie an einer Waldorfschule unterrichtet. Ich habe mich stark mit dem Waldorflehrplan von Tobias Richter auseinandergesetzt, und da habe ich viele Anregungen gefunden, die ich dann einfließen lasse.
Inwiefern lassen sich die Eltern, die ihre Kinder ganz zuhause lassen, tatsächlich anregen von dem, was Du sagst? Gibt es Eltern, deren Kinder nicht in der Waldorfschule sind, die Anregungen aus Deinem Kanal aufgreifen?
Ja, genau. Das ist ja das Schöne: Wir alle sind verschieden. Jeder von uns bekommt andere Impulse, sagen wir aus der geistigen Welt, und so kann jeder die Anregungen, die ich gebe, in seiner Weise aufnehmen. Eltern finden ihren eigenen Weg! Das ist eigentlich meine wichtigste Erfahrung: Jeder findet seinen eigenen Weg, daher habe ich in mein Buch auch elf Erzählungen von Eltern integriert, um aufzuzeigen, dass es nicht das häusliche Lernen gibt und auch nicht geben muss. Was brauchen Eltern? Ich möchte sie ermutigen, ihnen Ideen geben und nicht etwas vorschreiben, wie es zum Beispiel in Österreich der Fall ist, wo der Lehrplan vorgeschrieben ist und man die Externistenprüfung schaffen muss. Damit werden Eltern in ihrer eigenen Kreativität eingeschränkt. Nicht nur Lehrer sind kreativ, auch die Eltern sind es. Jede Familie, jede Familienkonstellation ist anders, jedes Elternteil hat seine eigenen Talente. Sich der eigenen Talente bewusst zu werden und dann offen zu sein für das, was die Kinder an Interessen und Begabungen mitbringen, das eröffnet neue Wege. Eine Mutter ist etwa kräuterkundig, die andere ist im Gartenbau versiert, eine dritte ist Heilpraktikerin, ein Vater ist Waldorferzieher, usw. Jeder hat seine Talente und kann dadurch etwas einbringen. Ich denke, man muss Eltern bestätigen, anstatt zu regulieren. Und dadurch entstehen dann eben ganz verschiedene Wege.
Ich habe am Anfang Eltern begleitet, die ihre Kinder zuhause hatten, und jetzt ist ein großer Teil dieser Kinder wieder in der Schule, auch weil die staatliche Verfolgung so stark ist, und nicht jeder kann auswandern oder auf Reisen gehen oder hält es durch, einen anderen Weg zu finden. Mein Wunsch für die Zukunft ist, dass Kinder auch sagen können, ich bleibe mal ein Jahr zuhause und lerne zuhause. Dann gehe ich vielleicht mal wieder in die Schule. Kinder, die aus dem häuslichen Lernen wieder in die Schule gehen, haben sich stark entwickelt, die erleben die Schule und das Lernen in der Schule anders. Dadurch könnte es auch positive Impulse für das schulische Lernen überhaupt geben.
Dann hast Du nach Elementen aus der Waldorfpädagogik für die Eltern gefragt, die ihren Kindern im Sinne dieser Pädagogik parallel zur Schule etwas mitgeben wollen. Man kann viele Elemente daraus in den Alltag mitnehmen.
Viele Eltern geben ihre Kinder jetzt nicht mehr bis abends in den Hort, sondern die Kinder bleiben kurze Zeit in der Schule, und dann bleibt nachmittags noch viel Freiraum für die anderen Dinge. Zum Beispiel für waldorfpädagogische Elemente, wie etwa für Rhythmisches, für Rituale, für handwerkliche Tätigkeiten, für künstlerische Tätigkeiten.
Die Erfahrung des häuslichen Lernens war eine große Chance. Die aktuelle Bildungssituation ist katastrophal. Um das zu bemerken, braucht man nicht PISA anzusehen. Daher können von diesen Eltern, die neue Wege gehen, wichtige Impulse auch für das schulische Lernen ausgehen.
Kannst Du charakterisieren, was sich verändert, wenn die Kinder länger zuhause gelernt haben? Was ist anders, wenn sie wieder in die Schule gehen?
Im häuslichen Lernen merke ich, wie ich lerne, ich werde mir etwa meines Biorhythmus bewusst, anders als wenn ich immer um 6 Uhr aufstehen muss, um pünktlich um 8 Uhr in einer Schule zu sein. Das ist für manche Kinder sehr schwer, anderen fällt es leichter, und manche Kinder wurden sich jetzt bewusst, dass sie zum Beispiel besser am Abend lernen. So gibt es ein Mädchen in meinem Buch, das irgendwann zu seiner Mama sagte: „Mama, lass uns am Abend lernen. Tagsüber habe ich so viele eigene Ideen. Lass uns abends zusammensitzen.“ Diese Kinder sind sich mehr über sich selbst bewusst. Das können Sie in der Schule einsetzen. Sie haben auch eine andere Motivation. Sie lernen für sich und sie lassen sich vielleicht auch nicht mehr alles gefallen.
Gibt es etwas, das Du den Eltern noch mitgeben möchtest, die versuchen, neue Wege zu gehen?
Vielleicht den Satz: Vertraut auf euch, ihr könnt das!
Vielen Dank, liebe Svenja, für das anregende Gespräch!
Das Interview führte Antje Bek für erWACHSEN&WERDEN
Svenja Herget ist vierfache Mutter, Sonderschul- und ausgebildete Waldorflehrerin, Autorin und Vortragsrednerin. 2020 gründete sie die Initiative „Homeschooling wagen“. Seitdem begleitet und berät sie Eltern bei der selbstbestimmten Bildung ihrer Kinder. In ihrem gleichnamigen Telegram-Kanal gibt sie dazu Fachinformationen und tägliche Impulse.
Telegram: https://t.me/homeschoolingwagen
Website: www.homeschooling-wagen.org
1 Das Buch von Svenja Herget kann über ihre Website bestellt werden
Der Beitrag erschien in in erWACHSEN&WERDEN 02/24, Februar 2024
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