DAS PFINGSTFEST, FRIEDENSFÄHIGKEIT UND DIE MENSCHHEITSFAMILIE
- Antje Bek
- vor 5 Tagen
- 6 Min. Lesezeit

Den schönen, im Titel des Beitrags erwähnten Begriff der „Menschheitsfamilie" hat der Historiker und Friedensforscher Daniele Ganser bekannt gemacht. Daniele Ganser beschreibt in seinem Online-Vortrag vom 24. Oktober 2024 [1], wie dieser Begriff zu ihm gekommen ist, er hatte ihn nie zuvor bewusst gehört: „Ich könnte wirklich nicht mehr sagen, was der Moment war, als mir das zum ersten Mal klar wurde, dass das ein wichtiges und ein starkes Wort war, es ist wirklich wie von innen aufgestiegen sozusagen in mir von der Seele her zum Verstand und vom Verstand zur Hand und dann habe ich es geschrieben…“[2].
Schließlich hat er recherchiert, wer vor ihm dieses Wort bereits benutzte. Dabei ist Daniele Ganser, ehemaliger Waldorfschüler, auf einen Vortrag Rudolf Steiners gestoßen, die Einleitung zu einer Vortragsreihe in Helsingfors 1912[3] Daniele Ganser geht in seinem Vortrag näher auf Rudolf Steiners Worte ein und erläutert dessen Verständnis des Begriffs „Menschheitsfamilie“[4], wir kommen weiter unten darauf zurück. Es ist das Verdienst von Daniele Ganser, dass dieses wichtige, friedensstiftende Wort „Menschheitsfamilie“ inzwischen von vielen aufgegriffen wurde und in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen ist.
Dem Begriff einer allumfassenden Menschheitsfamilie scheint jedoch der in der Anthroposophie entwickelte Gedanke, dass es in der gegenwärtigen Zeit gerade um die Individualisierung der menschlichen Seelen, also um die Entwicklung des „Ich“ geht, entgegenzustehen.
Menschheitsfamilie contra Individualisierung?
Wie passen diese beiden Begriffe also zusammen: Menschheitsfamilie und Individualisierung? Sind das nicht Gegensätze, die sich im Grunde ausschließen? Müsste nicht das „Ego“ abgeschafft werden, damit wir überhaupt zu einer Menschheitsfamilie werden können? Die Beschäftigung mit dem Pfingstereignis, wie es vor über 2.000 Jahren stattgefunden hat, und das bis heute gefeiert wird oder zumindest ein Feiertag ist, kann helfen, sich dieser so aktuellen Fragestellung anzunähern.
Am Pfingsttag hatten sich die Jünger in einem Haus versammelt. Nachdem sie ein Brausen, einen kräftigen Wind in der Luft wahrgenommen hatten, erschien Feuer, das in einzelne Zungen aufgeteilt war, und es „setzte sich“ auf jeden von ihnen. Auf alten Abbildungen (s.o.) kann man dieses Geschehen in Form von Feuerflammen über den Köpfen der Jünger veranschaulicht sehen. Dann begann jeder Jünger aus dem Geiste heraus, der nun in ihm Wohnung genommen hatte, zu sprechen, jeder in seiner Art und sie wurden verstanden, unabhängig davon, welche Sprache die Zuhörenden selbst sprachen. Am Ende dieses Tages saßen schließlich alle „einmütig“ beieinander, wie es in manchen Bibelübersetzungen heißt.[5]
Ein neuer „Familienbegriff“
Wie können wir dieses Geschehen mit unserer aktuellen Zeit in Zusammenhang bringen? Wir können im Pfingstgeschehen beides erkennen, einerseits die Individualisierung der einzelnen Seelen an dem in die einzelnen „Feuerzungen" aufgespaltenen Geist, und andererseits die tiefe Einmütigkeit aller, die Erfahrung, die Erkenntnis eines sie alle verbindenden Geistes, das unmittelbare Verständnis von Mensch zu Mensch trotz unterschiedlicher „Sprachen“ und die Zugehörigkeit zu einer großen Menschheitsfamilie.
Dies ist ein völlig neuer Begriff von „Familie“. Eine Familie, die nicht mehr auf Blutsverwandtschaft beruht, aber auch nicht mehr auf der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Volk, einer bestimmten Ethnie oder anderen Gruppen. Zur Menschheitsfamilie gehören per se alle Menschen. In dem erwähnten Vortrag spricht Rudolf Steiner über den gemeinsamen Ursprung aller Menschen, wir alle sind von einem Geistig-Göttlichen ausgegangen und können uns als spirituell suchende Menschen, die Rudolf Steiner auch „Strebende nach Geisterkenntnis“[6] oder „Gottsucher“[7] nennt, daran erinnern.
„Was ist denn Gottsuchen in unserer Gegenwart? Etwas wie ein mächtiger Sehnsuchtsschrei der Menschen, die heute schon verstehen dasjenige, was alle Menschen binden soll immer mehr und mehr in der Zukunft, was aufleben lassen soll in allen Herzen das Verbindende immer mehr und mehr in die Zukunft hinein, wie es immer mehr und mehr war, je weiter wir in unsere Vergangenheit zurückschauen. Und so kommen wir uns vor wie Brüder der allumfassenden Menschheitsfamilie (Herv. d. Verf.), die ausgegangen sind von gemeinsamem Heim, ihre Entwicklung, ihre Evolution durchgemacht haben in den verschiedensten Gebieten und nicht vergessen haben dasjenige, was sie erinnert an ihren uraltheiligen Ursprung.“[8]
Der in diesem Sinne verstandenen „Menschheitsfamilie“ geht der individuelle Erkenntnisprozess voraus, dass in uns allen ein Geist wohnt, der uns verbindet. Es steht jedoch in der Freiheit jedes Menschen, ob er dies (an)erkennt und sich dieser Familie zugehörig fühlen will und kann. Die bewusste Mitgliedschaft in der Menschheitsfamilie ist also nicht durch Zwang möglich, sondern nur durch die Verbindung mit dem Geist der Liebe, dem Christus.
„Wenn wir als Geistsuchende zusammenkommen, dann wissen wir alle etwas voneinander und keiner ist uns fremd. Wir wissen von dem anderen, daß in seinem tiefsten Innern, in seinem eigentlichen menschlichen Kern mit uns das gleiche geistige Ideal lebt, und so erscheint er uns wie ein alter Bekannter, wie ein selbstverständlicher Bekannter.“[9]
Diese verbindende Kraft ist in der Anthroposophie, aber auch in der anthroposophischen Pädagogik lebendig. Mich berührt es immer, wenn sich Waldorfschüler verschiedener Schulen und auch Länder begegnen, wie zu beobachten ist, dass von Anfang an eine Verbundenheit erlebt wird, die meinem Empfinden nach auf die Wirksamkeit des erwähnten Geistes im Schul-Alltag, dort wo er lebendig ist, zurückzuführen ist.
Nun hat jeder Mensch die Möglichkeit, sich im Innern ganz auf die ihm gemäße Weise diesem Geist zuzuwenden – ja, gerade das entspricht dem Wesen dieses Geistes, dass er nur individuell, im Herzen gefunden werden kann. Weil er sich individualisiert, äußert er sich dann ganz unterschiedlich von Mensch zu Mensch. Die Jünger sprachen beim Pfingstereignis ein jeder ganz anders aus ihm heraus, und wurden dennoch von allen verstanden, weil seine Sprache eine universelle ist.
Individualisierung, Moralität und Freiheit
Was bedeutet es nun etwas konkreter gesprochen, sich individuell mit diesem Geist, zu verbinden? Das bedeutet u.a., dass es keine Moralität mehr gibt, die dem einzelnen vorgeschrieben werden kann. Gerade die Moralität, also wie wir uns dem anderen Menschen, den Tieren, den Pflanzen, der Erde, der geistigen Welt gegenüber aus unserem Innersten heraus verhalten, muss heute selbständig errungen werden – mit allen möglichen Verirrungen, die das zur Folge haben kann. Die nicht ausbleibenden Verirrungen, die wir bei anderen Menschen zu erkennen meinen, dürften jedoch wiederum nicht so wirken, dass wir dadurch zu der Überzeugung gelangten, eine Menschheitsfamilie könne etwa durch eine geforderte oder gar angeordnete „Solidarität“, „Mehrheitsmeinung“ etc. begründet werden.
Die Jünger, die am Ende des Pfingstfestes einmütig zusammensaßen, waren nicht in eine neue Gemeinschaft gezwungen worden oder hatten sich ihr untergeordnet, sondern sie erlebten sie in aller Freiheit, aus ihrem Innersten heraus. Sie erlebten sie, weil nicht nur der Einzelne auf seine Weise die Verbindung mit dem Geiste eingegangen war, sondern weil sie erkannten, dass in allen der gleiche Geist wirkte! Auf diese Weise nahmen sie im anderen ihren Menschenbruder wahr.
Die aktuelle Zeit kann so erlebt werden, dass sie uns ganz besonders zu einer individualisierten Moralität aufruft. Dies bedeutet allerdings nicht, dass Menschen, die ihrer eigenen und nicht der „angesagten“ Moralität folgen, keine Schwierigkeiten im Leben hätten, im Gegenteil. Als ein Beispiel möchte ich hier Friedrich Pürner, heute fraktionsloser Abgeordneter des EU-Parlaments sowie Arzt und Epidemiologe, nennen. Er ist während der Corona-Zeit als Leiter des Gesundheitsamtes Aichach-Friedberg (Bayern) seinem eigenen Gewissen gefolgt, was jedoch für ihn weitreichende Konsequenzen hatte. Nach mehrfachen kritischen Äußerungen über die Sinnhaftigkeit der Corona-Maßnahmen wurde er schließlich strafversetzt. Er sagte über diese Zeit: „Meine berufliche Karriere ist zu Ende. Und mir geht es nicht gut. Das sage ich ganz offen. Wenn Kritiker das amüsant finden, sollen sie ruhig lachen. Was man mit mir macht – es hat nie aufgehört – ist unanständig. Alles, was mir widerfahren ist, wirkt tief hinein in mein Privatleben. Aber den Preis dafür zahle ich sogar gerne. Mir ist bewusst, dass dies wie ein Widerspruch klingt. Aber ich kann reinen Gewissens morgens in den Spiegel und abends in die Gesichter meiner Kinder blicken, ohne dass ich mir etwas vorwerfen muss. Ich bin niemandem böse, auch nicht hasserfüllt.“[10] Friedrich Pürner engagierte sich schließlich im Bündnis Sarah Wagenknecht (BSW) politisch, trat jedoch im Februar 2025 aus der Partei mit ähnlichen Gründen wieder aus, wie sie für ihn auch während der Corona-Zeit ausschlaggebend waren:
„Es ist nicht mein Ziel, mich beliebt zu machen, sondern Aufrichtigkeit und Verlässlichkeit zu leben. Dass man damit oft nicht gut fährt, habe ich sowohl bei meiner Kritik an der Pandemie-Politik als auch nun in der Partei und aktuell durch meinen Austritt erleben müssen.“[11]
Pfingsten - Fest einer neuen Gemeinschaft
Das Pfingstfest kann als das Fest einer zukünftigen neuen Gemeinschaft verstanden werden, die hier auf der Erde durch die individuelle Verbindung jedes Einzelnen mit dem Christus-Geist, mit dem Geist der Liebe, entstehen und wachsen kann. Gerade dazu bietet die aktuelle Zeit – neben allem Bedrohlichen und Erschreckenden – eine besondere Gelegenheit. Angesichts der derzeitigen Kriegstreiberei, dem Schaffen von Feindbildern, der Spaltung der Menschheit und dem Gerede von Kriegstüchtigkeit kann die innere Belebung des Begriffs der „Menschheitsfamilie“, deren Verwirklichung auf etwas Zukünftiges hinweist, und das Bewusstsein des individuellen Gewissens eine starke friedensfördernde Kraft sein
Antje Bek ist Klassenlehrerin an einer Waldorfschule und war Dozentin am Institut für Waldorfpädagogik Witten Annen. Als Dozentin für anthroposophische Pädagogik im In- und Ausland tätig. Diverse Veröffentlichungen, Forschungen zum Bruchrechnen und Anfangsrechnen
Website: antje-bek.de
Literatur
1 Dr. Daniele Ganser: Menschheitsfamilie - ein starkes Wort für die Friedensbewegung (4.10.2024) https://www.youtube.com/ watch?v=vdpGVRQJG5E
2 Ebd., Minute 11:22
3 Rudolf Steiner: Die geistigen Wesenheiten in den Himmelskörpern und Naturreichen, Helsingfors, 3. April 1912, GA 136, Dornach 1916
4 Dr. Daniele Ganser: Menschheitsfamilie - ein starkes Wort für die Friedensbewegung (4.10.2024) https://www.youtube.com/ watch?v=vdpGVRQJG5E, ab Minute 18:29
6 A.a.O. Fußnote 3, S. 15
7 Ebd. S. 14
8 Ebd.
9 Ebd., S. 15
Der Beitrag erschien in erWACHSEN&WERDEN 06/25, Juni 2025
Foto:
Comentários