Eine Herausforderung für die Pädagogik
Zur Medienpädagogik ist in waldorfpädagogischen Zusammenhängen in den letzten Jahren sehr viel geforscht und publiziert worden.[1] In einer dreiteiligen Artikelserie wird diese Thematik um eine neue, bisher wenig beachtete Perspektive ergänzt.
Ãœberblick
Der erste Teil widmet sich den Folgen der Digitalisierung der Lebenswelt, insbeÂsondere von Kindern und Jugendlichen und der damit verbundenen VerschmelÂzung der Arbeits- mit der Lebenswelt. Im zweiten Teil wird es unter diesem GeÂsichtspunkt um die Konsequenzen für die Erziehung aus der Perspektive der WalÂdorfpädagogik und den generellen UmÂgang mit digitalen Medien in der Schule und zu Hause gehen.
Arbeits- und Lebenswelt
Im IndustriezeitÂalter waren die ArbeitsÂwelt und die LeÂbenswelt stets deutÂlich voneinanÂder getrennt. In der ArÂbeitswelt wurde im Sinne des KapitaÂlisÂmus menschliche ArÂbeits- und damit LeÂbenskraft verÂbraucht, oft in hoÂhem AusÂmaß auch gesundheitsschädlich. Die Lebenswelt diente dagegen dem AusÂgleich, der ErÂholung und Regeneration, auch um den Anforderungen der ArÂbeitswelt kräfteÂmäßig gerecht werden zu können. Es ging dabei im Sinne des Kräftehaushalts und der Gesundheit daÂrum, ein GleichÂgewicht von Arbeits- und Lebenswelt zu schaffen und zu erhalten.
Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts erkannten fortschrittlich gesonnene InÂdustrielle ihre Verantwortung für dieses Kräfte- und Gesundheitsgleichgewicht der ihnen unterstellten und von ihnen abhängigen Arbeiter. Robert Bosch und vor allem Emil Molt in Stuttgart waren in diesem Sinne nicht nur um das gesundÂheitliche, sondern auch um das geistige Wohl ihrer Arbeiter bemüht. Die erste Waldorfschule, ja die Waldorfpädagogik verdankt ihre Entstehung diesem BemüÂhen Emil Molts, eine die Lebenswelt unÂterstützende Erziehung für die Kinder seiÂner Arbeiter zu schaffen.[2]
Die Digitalisierung der Arbeitswelt
Die seit der Mitte des 20. JahrhunÂderts einsetzende DigitaliÂsierung der ArbeitsÂwelt und der VorÂmarsch neuarÂtiger, intelligenter MaschiÂnen diente zuÂnächst der ErleichteÂrung der Arbeitsbedingungen in den Fabriken und Büros und hat auf diese Weise einen Zugewinn an Zeit für die LeÂbenswelt der Beschäftigten, aber auch zusätzliche Gewinne der Industrie möglich gemacht.
Die Anfänge des Internets in den USA der 80er Jahre waren zunächst ebenso auf eine Erleichterung der Kommunikation, dem Austausch von Ideen, der VernetÂzung von beruflich zusammenarbeitenÂden Teams gewidmet.
In dieser Zeit war die Entwicklung intelligenter Maschinen nach wie vor auf den Bereich der ArÂbeitswelt konzentriert. Das heißt, kein AnÂgestellter wäre auf die Idee gekommen, eine dieser Maschinen mit nach Hause in den Bereich seiner Lebenswelt mitzuÂnehmen.
Die Digitalisierung der Lebenswelt
Es waren Steve Jobs und Bill Gates, die ab Mitte der 80er Jahre den Einzug der intelligenten Maschinen in die LeÂbenswelt durch die Einführung der graÂfisch gestalteten, „Desktop“ genannÂten BenutzeroberÂfläche einleiteten. Erst durch den sich daraus entwickelnÂden Personal Computer (PC), wurde es möglich, die bisherigen, allein der Arbeit dienenden intelligenten MaÂschinen auch zu Hause zu gebrauchen, und zwar nun nicht mehr für die Arbeit, sondern erstaunlicherweise für die FreiÂzeit, d.h. die Regeneration der LebensÂkräfte in der Lebenswelt. Seitdem versuÂchen die Menschen ihre Lebenskräfte an denselben Maschinen zu regenerieren, die in der Arbeitswelt eben diese LebensÂkräfte abbauen.
Erstmalig wurde damit das frühere PrinÂzip des Industriezeitalters, nämlich die Ausbeutung und den Abbau menschliÂcher Arbeits- und Lebenskraft durch UnÂterstützung der Regeneration der ArbeiÂtenden innerhalb ihrer Lebenswelt ausÂzugleichen, auf den Kopf gestellt. Darin besteht aus dieser Perspektive das eigentlich Revolutionäre der Digitalisierung. Denn seit dieser digitalen RevoluÂtion können die führenden Unternehmen der Digitalwirtschaft ihre Profite nicht nur in der Nutzung von ArÂbeitskräften in der Arbeitswelt generieÂren, sondern zusätzÂlich auch in der digiÂtal organisierten und von digitalen MeÂdien bestimmten Lebenswelt.
Die Verschmelzung von Arbeits- und Lebenswelt
Mit dieser Verschmelzung begann aber zugleich die Täuschung darüber, was sich hier eigentlich abspielt: nämlich eine nur scheinbare Regeneration der durch Arbeit verbrauchten Lebenskräfte durch dieselben Maschinen, an denen die Menschen ihre Arbeitszeit und LeÂbenskraft verbrauchen.
Allein die graÂfisch gestaltete, die Lebenswelt simulieÂrende Benutzeroberfläche, die in Gestalt eines „Windows“ den Blick in einen freundlichen blauen Himmel suggeriert, täuscht die Benutzer darüber hinweg, dass sich hinter dieÂser schönen und smarten Oberfläche dieselben MaschiÂnen verbergen, an denen die MenÂschen tagtäglich ihre Arbeit in den Büros oder Fabriken leisten. Eben jene Maschinen, die ihnen die Kräfte abverÂlangen, die sie nun auf wundersame Weise mit Hilfe derselben Technologien wiederherzustellen glauben.
Dass Arbeit Lebenskraft verbraucht, und dass es deshalb der Erholung und damit des Wiederaufbaus dieser Lebenskräfte bedarf, ist ein wohl für jeden Menschen täglich erfahrbares Gesetz. Dass sich dieses Gesetz mit Hilfe der DigitalisieÂrung nunmehr aber umgehen und durch eine nicht nur die Augen, sondern auch die Nerven und den Geist ermüdende Bildschirmtätigkeit, die durch eben diese Bildschirme verbrauchten Lebenskräfte auf wundersame Weise wiederherstellen lassen – das erscheint dem gesunden Menschenverstand eher als ein Wunder, denn als eine real nachvollziehbare Tatsache. Dennoch verhalten sich die meisÂten Menschen so, als ob eine solche UmÂkehr dieses Lebensgesetzes tatsächlich möglich wäre.
Noch deutlicher trat diese Vortäuschung falscher Tatsachen dann Ende des 20. Jahrhunderts. durch die EinfühÂrung des Internets und schließlich zu Beginn des 21. Jahrhunderts durch die Einführung der Smartphones in Erscheinung. Denn durch diese digitalen Technologien wurde nun ein noch viel größerer Teil der Lebenswelt der BenutÂzer durch das ursprünglich zur berufliÂchen Kommunikation entwickelte InterÂnet vollends zum Bestandteil der Lebenswelt gemacht. Die imÂmer mehr sich ausbreitende DigitalinÂdustrie und damit ein großer Teil der heutigen Arbeitswelt, sowohl in den westlichen wie in den östlichen IndustÂriestaaten bestimmt gleichzeitig die GeÂstaltung der heutigen Lebenswelt eines großen Teils der Menschen in diesen TeiÂlen der Welt.
Burn-Out, Erschöpfungs- und Müdigkeitssyndrome
Die Menschen nutzen die digitalen GeÂräte und Medien mit dem täuschenden Gefühl, damit ihre Lebenswelt besser und mithin erholsamer zu gestalten. De facto aber ist das Gegenteil der Fall: Durch die Nutzung digitaler TechnoloÂgien und Medien „arbeiten“ die MenÂschen nicht mehr nur in ihrer Arbeits- sondern nunmehr auch in ihrer LeÂbenswelt. Mit fatalen Folgen: Burn-Out, Erschöpfungs- und Müdigkeitssyndrome breiten sich in der arbeitenden Bevölkerung immer mehr aus und führen zu immer höheren Ausfallraten und Krankschreibungen.[3]
Abgesehen davon streben die Vordenker der digitalen InÂdustrie aus dem Silicon Valley wie etwa Ray Kurzweil schon seit der JahrtauÂsendwende die endgültige VerschmelÂzung des Menschen mit den digitalen Maschinen an. Diese Ideologie nennt sich deshalb auch „TransÂhumanisÂmus“, weil sie den Menschen damit auf eine „höhere“ Stufe seiner Entwicklung zu heÂben gedenkt, die sogenannte „SingulariÂtät“, bei der die menschliche und die technologische Entwicklung in eins verÂschmolzen werden sollen.[4]
Die grundlegende Täuschung, dass es sich bei den intelligenten Maschinen nicht um das, was sie sind, nämlich ArÂbeitskraft beanspruchende, Mehrwert schaffende und daÂmit Lebenskraft verÂnichtende MaschiÂnen handelt – die vielmehr den AnÂschein erwecken wollen, es handele sich bei ihrer NutÂzung um einen Teil der Lebenswelt und mithin um „ErhoÂlung“, zählt zu den größten TäuÂschungen, die es im Hinblick auf die vom Menschen genutzten Technologien und deren eiÂgentlicher Bedeutung jemals gegeben hat.Â
Fatale Konsequenzen für Kinder und Jugendliche
Die Digitalisierung wurde aber damit auch immer stärÂker zu einem grundlegenden Bestandteil der Lebenswelt von Kindern und JugendÂlichen. Dabei hat die genannte Täuschung, sofern sie nicht durchschaut wird, für Kinder- und Jugendliche noch fatalere Konsequenzen. Denn ihre Lebenskräfte sind noch in Ausbildung beÂgriffen, während sie qua DigitaltechnoloÂgie auf dem Wege der Nutzung digitaler Medien bereits wieder durch „Arbeit“ im hier gemeinten Sinne abgebaut werden. Nicht nur Erschöpfungs- und Müdigkeitssyndrome breiten sich bei Kindern und Jugendlichen weiter aus.[5] Auch die schulischen Leistungen, vor allem im BeÂreich der „Literacy“ nehmen aufgrund nachlassender AufmerksamkeitsfähigÂkeiten drastisch ab und haben insbeÂsondere Deutschland ein neue „BilÂdungskatastrophe“ beschert.[6] Diese wird von EntwicklungsÂpsychologen, NeuÂrobiologen und ErÂziehungswissenschaftlern eindeutig der sich immer weiter ausdehnenden BildÂschirmnutzung von Kindern und JugendÂlichen zugeschrieben. Dennoch wird mit Hilfe des von Angela Merkel angestoßeÂnen „Digitalpaktes“ eine immer weitere Ausrüstung aller Schultypen und auch Kindergärten mit Bildschirmen und entÂsprechender Lernsoftware vorangetrieÂben.
Damit entsteht innerhalb der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen die verÂsteckte Form einer Arbeitswelt, die ihren ausbeuterischen und Lebenskräfte verÂnichtenden Charakter in äußerst geÂschickter Art und Weise zu verbergen weiß.
Dass wir es damit zu Beginn des 21. JahrÂhunderts auch mit einer neuen und versteckten Form von „Kinderarbeit“, insbesondere in den hoch entwickelten Industrieländern Asiens, Europas und Amerikas zu tun haÂben, scheint bislang kaum bemerkt worÂden zu sein.[7]
Welche Konsequenzen die hier beschrieÂbene Entwicklung nun für eine an der Entwicklung der Kinder und JugendliÂchen interessierte Pädagogik hat, die sich seit ihren Anfängen gegen eine KonÂditionierung von Entwicklungskräften durch gesellschaftliche und wirtschaftliÂche Interessen richtet, dennoch aber von einem durch Rudolf Steiner dezidiert geÂforderten praktischen Bezug zur ArbeitsÂwelt geprägt ist, wird im zweiten Teil dieses Beitrages in der Dezember-Ausgabe zu lesen sein.
Literatur und Anmerkungen
1 Vgl. dazu Edwin Hübner: „Medien und Pädagogik – Gesichtspunkte zum Verständnis der Medien. Grundlagen einer anthroposophisch-anthropoÂlogischen Medienpädagogik, Stuttgart 2015.
2 Vgl. dazu das Buch des Verfassers „Rudolf SteiÂner in Stuttgart“, Stuttgart 2011.
4 Vgl. dazu Ray Kurzweil: „Menschheit 2.0. Die SinÂgularität naht“, Berlin 2014. Eine anthroposophiÂsche Perspektive zu dieser Entwicklung findet sich in dem Band „Der elektronische Doppelgänger“ mit Texten von Rudolf Steiner, hrsg. von Andreas Neider, Dornach 2012.
5 Aus diesem Grund hat die schwedische RegieÂrung ihre Entscheidung, alle Kindergärten SchweÂdens mit Bildschirmen auszurüsten, im Juni 2023 rückgänÂgig gemacht: „Es ist offensichtlich, dass BildÂschirme große Nachteile für kleine Kinder haben. Sie behindern das Lernen und die SprachentwickÂlung. Zu viel Bildschirmzeit kann zu Konzentrationsschwierigkeiten führen und die körperliche Aktivität verdrängen. Wir wissen, dass menschliÂche Interaktion für das Lernen in den ersten LeÂbensjahren entscheidend ist. Bildschirme haben in Vorschulen einfach nichts zu suchen." www.diagnose-funk.org/aktuelÂles/artikel-archiv/detail&newsid=1991Â
6 Siehe dazu die Artikelserie zum Zusammenhang der „Bildungskatastrophe“ mit der Digitalisierung: www.diagnose-funk.org/aktuelles/artikel-archiv/detail&newsid=1926
7 Eine profunde Kritik der Digitalisierung hat aus anthroposophischer Perspektive zuletzt Rainer Patzlaff gegeben: „Die Sphinx des digitalen ZeitalÂters – Aspekte einer Menschheitskrise“, Stuttgart 2021. Â
Andreas Neider ist seit 2007 als Referent und Buchautor zu medienpädagogischen Fragen und zur kritischen Betrachtung der Digitalisierung unterwegs. Er kann zu Vorträgen und Seminaren auch an Ihre Schule eingeladen werden.
Website: www.andreasneider.de    Â
Kontakt: aneider@gmx.de
Der Beitrag erschien in erWACHSEN&WERDEN 10/23, Oktober 2023