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Das „Dekolonisierungs“- Projekt an Waldorfschulen

Eine kritische Auseinandersetzung


Von Mark McGivern*



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Aus gegebenem Anlass bringen wir hier die leicht gekürzte Fassung eines Artikels des kanadischen Waldorflehrers Mark Mc Givern, der sich kritisch mit den Dekolonisierungsbestrebungen Martin Rawsons auseinandersetzt.[2] Sein Fazit finden Sie am Ende des Beitrages.


Anlass war folgende Meldung der Zeitschrift „Erziehungskunst“ Anfang Juli d.J.:

„Dr. Martyn Rawson wird Honorarprofessor im Fachbereich Bildungswissenschaft an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Alfter bei Bonn. Mit dieser Auszeichnung würdigt die Hochschule Rawsons bedeutende Forschungsarbeit und sein Engagement für die internationale Entwicklung der Waldorfpädagogik. …


Aktuell hat Rawson ein Buch für den Verlag Routledge fertiggestellt, in dem er die entscheidenden Faktoren für die Entwicklung zeitgemäßer Lehrpläne beschreibt. Der Titel lautet „Crafting a Curriculum of Coherence“. Dabei wirft er mit dem Konzept der Dekolonisierung einen kritischen Blick auf eine Waldorfpädagogik allein europäischer Prägung und plädiert für eine kulturintegrative und kulturadaptive Herangehensweise.“[1] 

 

Martyn Rawson, ein bekannter Waldorfpädagoge und Ausbilder, fordert von der Waldorfbewegung, ihren Lehrplan und ihre pädagogische Ausrichtung grundlegend zu verändern – und zwar im Sinne einer der derzeit populärsten und einflussreichsten Sozialtheorien: der Dekolonisierung.


Mangelndes Verständnis sozialer Einsichten Rudolf Steiners

In diesem Aufsatz erläutere ich, warum eine solche Ausrichtung auf einem mangelnden Verständnis der sozialen Einsichten Rudolf Steiners beruht sowie auf der fehlerhaften Annahme, dass Anthroposophie eurozentrisch sei. Dieser Irrtum hat Rawson dazu bewogen, die Dekolonisierung zu befürworten – eine Ableitung aus einer postmodernen, materialistischen Ideologie, die der Geisteswissenschaft in vielerlei Hinsicht entgegensteht. Tragischerweise würden die formelhaften, politisch motivierten Sozialethiken der Dekolonisierung das anthroposophische Grundprinzip – die Erziehung zu einem freien moralischen Gewissen – ersetzen, und das in einer Zeit, in der Kinder angesichts schwerwiegender gesellschaftlicher Herausforderungen dieses Prinzip ganz besonders benötigen.


Was bedeutet „Dekolonisierung"?

Die Theorie der Dekolonisierung, die etwa 2005 entstand, ist schwer eindeutig zu fassen. Wörtlich genommen bedeutet sie die kritische Auseinandersetzung mit der Kolonialgeschichte aus der Sicht der Kolonisierten. Rawson schreibt in einem Waldorf Working Paper No. 10 mit dem Titel Entkolonialisierung des Waldorf-Lehrplans: ein positiver hermeneutischer Ansatz: „Dekolonisierendes Lernen hilft uns, die Einflüsse des Kolonialismus auf unsere Welt zu erkennen, zu verstehen und infrage zu stellen“ – und: „Die meisten sozialen Krisen unserer Welt lassen sich ohne Kenntnis der Kolonialgeschichte nicht verstehen.“[3]


Dekolonisierende Pädagoginnen und Pädagogen versuchen, historische Ereignisse neu zu deuten, sodass die Perspektiven der durch das koloniale Projekt unterdrückten Menschen – deren Kulturen und Wissenssysteme marginalisiert oder zerstört wurden – sichtbar und verständlich werden. Dies ist zweifellos ein ehrenwertes Anliegen. In Nordamerika betrifft dies insbesondere indigene Völker sowie Nachkommen der Opfer des transatlantischen Sklavenhandels.


Nach Ansicht dieser Theorie liegen der Kolonialisierung bestimmte westliche kulturelle Überlegenheitsannahmen zugrunde. Die Dekolonisierung untersucht diese Annahmen und kommt zu dem Schluss, dass sie bis heute in westlichen Haltungen gegenüber ehemals kolonisierten und anderen als unterdrückt geltenden Gruppen fortwirken.


Die Dekolonisierung stützt sich auf die Arbeiten aus der postkolonialen Theorie und der kritischen Pädagogik, die ihrerseits auf fragwürdigen Annahmen der postmodernen Machttheorie beruhen. Letztere behauptet, dass Gesellschaften im Wesentlichen durch Machthierarchien geformt werden, welche wiederum Wissen erzeugen – mit dem Ziel, Macht zu erhalten und auszuüben.[4]


Materialistische Sichtweise gesellschaftlicher Dynamiken

Die Reduktion des sozialen Lebens auf Machtimpulse blendet die offensichtliche Wirkung von Ideen und Idealen weitgehend aus – sie erscheinen nur noch als Werkzeuge der Unterdrückung. Die Dekolonisierung zeichnet ein Bild des Menschen als ein von äußeren Kräften geformtes, weitgehend willenloses „historisches Konstrukt“ – wie Marx es formulierte.

Wenn Rawson behauptet, dass die Kluft zwischen dem Standpunkt der Dekolonisierung und jenem der Anthroposophie durch eine bloße „Neukalibrierung“[5] überbrückbar sei, übersieht er das zentrale Problem, das Waldorfpädagoginnen und -pädagogen mit dem Dekolonisierungsprojekt haben sollten: Dieses beruht im Kern auf einer einseitigen, materialistischen Sichtweise gesellschaftlicher Dynamiken, die mit dem archetypischen Menschenbild der Anthroposophie unvereinbar ist – einem Bild, das die Grundlage der Waldorfpädagogik bildet.


Steiners Auffassung von Entwicklung - eine eurozentrische Sichtweise?

Aus Rawsons Sicht macht sich die Waldorfpädagogik zweier Versäumnisse schuldig: Zum einen, dass sie historische Ungerechtigkeiten im Lehrplan ignoriere und damit ungerechte westliche Kulturannahmen aufrechterhalte; zum anderen, dass sie nicht erkenne, wie tief diese Annahmen selbst in der Anthroposophie verwurzelt seien. Rawson beschreibt Steiners Auffassung der Bewusstseinsentwicklung des Menschen als ein „ein anachronistisches Modell einer teleologischen, hierarchischen, Höherentwicklung, das Phasen und Stadien umfasst, in denen Rassen und Kulturen sich entwickeln oder ihr Potenzial zur spirituellen Emanzipation verlieren“.[6]


Diese Sichtweise bezeichnet Rawson als „eurozentrisch“, weil sie nahelege, dass „andere bestehende Religionen und Weltanschauungen abgelöst wurden“.[7] Seiner Meinung nach müsse man sich „der Natur des Problems bewusst sein“, wozu „Steiners Ansichten über Kultur, die Entwicklung der Kultur, kulturelle Epochen, Rassen, Volksseelen, Sprachgeister und die deutsche Nation“[8] gehören. Dabei übersieht Rawson, dass die Anthroposophie alle Kulturen als einem rhythmischen Auf- und Abstieg unterworfen betrachtet. Er reduziert Steiners umfassende historische Perspektive der geistigen Menschheitsentwicklung auf den engen Blickwinkel postkolonialer Theorie. Rawson übernimmt eine übersteigerte kulturelle Relativität, die aus dem egalitären Anspruch gespeist wird, es dürfe nichts Universelles am Menschen geben. Angesichts dieser Prioritäten wird deutlich, warum die Anthroposophie in Rawsons Augen keine „moderne“ Sichtweise besitzt.


Rudolf Steiner: Allen Kulturen liegt eine geistige Dynamik zugrunde

Die postkoloniale Theorie reduziert unser Verständnis vom Menschen auf seine ethnisch-kulturellen Ausdrucksformen. Demgegenüber erkennt die Anthroposophie eine geistige Dynamik, die allen Kulturen zugrunde liegt und sich durch sie hindurch entfaltet. Die Entwicklung des Bewusstseins ist der eigentliche Motor kultureller Entwicklung. Um das Wesen des Menschseins zu begreifen, müssen wir diese geistigen Kräfte verstehen. Diese spirituelle Perspektive zugunsten der Behauptung aufzugeben, dass keine Kultur die andere je wirklich verstehen könne, bedeutet, sich radikal von der anthroposophischen Sichtweise zu entfernen. Notgedrungen muss Rawson die Anthroposophie als bloßes Produkt westlicher Kultur begreifen – nicht als neue, moderne geistige Bewegung, die von einem modernen Eingeweihten begründet wurde.


Postmodere Sozialtheorien: Herausforderung für die Waldorfpädagogik

Zweifelsohne hat Rawson zur Entwicklung der Waldorfpädagogik in vielerlei Hinsicht beigetragen. Seine Arbeit zu den sogenannten „generativen Prinzipien“ etwa ist ein kreativer Versuch, Lehrkräften zu ermöglichen, stärker aus eigener Inspiration zu arbeiten. Rawson selbst ist also nicht das eigentliche Problem. Vielmehr sind es die postmodernen Sozialtheorien, auf die er sich stützt – und die das Fundament seiner dekolonisierenden Bestrebungen bilden –, die zu einer Herausforderung für alle anthroposophischen Einrichtungen geworden sind.


Unter dem Einfluss des postmodernen Materialismus fordert Rawson eine „post-Steiner“[9] Ausrichtung der Waldorfpädagogik. Diese verlangt, dass sämtliche anthroposophischen Aussagen über Rasse, Geschichte, Geschlecht und Kultur einem postmodernen Gleichheitstest unterzogen werden. Rawson ist fest davon überzeugt, dass die Waldorfpädagogik nur dann Anschluss an das allgemeine Bildungswesen finden könne, wenn sie dem postmodernen Narrativ von sozialer Gerechtigkeit und Dekolonisierung folgt. Bleibe sie hingegen ihren anthroposophischen Grundlagen treu, drohe ihr – so scheint Rawson zu fürchten – das Etikett „reaktionär“, „weltfremd“ und „nicht mehr zeitgemäß“. Dieses Streben nach gesellschaftlicher Anschlussfähigkeit ist bestenfalls fragwürdig, schlimmstenfalls jedoch eine grobe Verkennung des geistigen Auftrags der Waldorfpädagogik.


Das Problem der Halbwahrheiten

Obwohl die Waldorfpädagogik auf der anthroposophischen Sicht des Menschen beruht, findet die Theorie der Dekolonisierung zunehmend Anklang innerhalb der Bewegung. Ein Grund hierfür liegt darin, dass es der anthroposophischen Bewegung bislang nicht gelungen ist, eine eigene, aus ihrer Perspektive entwickelte Herangehensweise an Fragen sozialer Gerechtigkeit zu formulieren. Es fehlt an fundierten Inhalten, mit denen neue Ansätze verglichen werden könnten. Das begünstigt die Tendenz, fremde Weltbilder unkritisch zu übernehmen.[10]


Ein weiterer Grund liegt darin, dass wir noch nicht in vollem Umfang durchschaut haben, wie die neue postmoderne Ideologie überhaupt funktioniert. Dies hängt vermutlich mit einem ihrer auffälligsten Merkmale zusammen: der intelligenten Konstruktion und Anwendung von Halbwahrheiten.


Soziale Gerechtigkeit ist zweifelsohne ein zentrales Anliegen, das unser ernsthaftes Bemühen erfordert. Diese moralische Kraft ist integraler Bestandteil der anthroposophischen Sozialimpulse. Was jedoch nicht stimmt, ist die Behauptung, dass die gegenwärtigen postmodernen Gesellschaftstheorien, die dem neuen Konzept „kritischer sozialer Gerechtigkeit“ zugrunde liegen, ebenfalls als „fortschrittlich“ zu gelten hätten. Betrachtet man sie im Lichte der Anthroposophie, so offenbart sich ihr materialistischer Kern – und dieser ist regressiv.


Fortschrittliche Moral und rückschrittliche Theorie

Das postmoderne Verständnis von Gerechtigkeit vermischt den berechtigten Impuls moralischer Fortschrittsorientierung mit einer Theorie, die in ihrer Substanz rückwärtsgewandt ist. Daraus entsteht eine Halbwahrheit. Rudolf Steiner warnte eindringlich davor, dass Halbwahrheiten gefährlicher seien als vollständige Irrtümer. Denn während sich grobe Unwahrheiten leicht entlarven lassen, wirken Halbwahrheiten umso verführerischer. Diese Erkenntnis hilft uns, die aktuelle Herausforderung zu verstehen, vor der wir stehen.

Die Unfähigkeit der Waldorfbewegung – wie auch der anthroposophischen Bewegung insgesamt –, die Natur dieser Verbindung aus fortschrittlicher Moral und rückschrittlicher Theorie als Halbwahrheit zu erkennen, hat meines Erachtens wesentlich zur zunehmenden Akzeptanz von Rawsons Forderung beigetragen, den Waldorflehrplan anzupassen. Ohne eine solide Verankerung in Steiners sozialen Einsichten ist die Waldorfpädagogik anfällig für egalitäre Ideologien, die sich in den Lehrplan einschleichen können. Das bedeutet jedoch keineswegs, dass es der Anthroposophie an Fähigkeit oder inhaltlichen Ressourcen fehlt, eine eigene Position zu sozialen Fragen zu entwickeln – und diese in einer Weise aufzugreifen, die der kindlichen Entwicklung angemessen ist. Im Gegenteil: Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der sozialen Dreigliederung offenbart einzigartige Einsichten, die den moralischen Anliegen von Gerechtigkeit in besonderer Weise dienen könnten.[11]


„Woke-Kultur" - eine Kultur des Erwachens?

Rawson allerdings weist eine solche Auseinandersetzung zurück. Um zu verstehen, warum, muss man sich fragen, welche kulturellen Grundannahmen die Dekolonisierung für inakzeptabel hält – und durch welche neuen sie ersetzt werden sollen. In Rethinking Waldorf Curricula macht Rawson die Kriterien dafür deutlich:

„Zur richtigen Zeit am richtigen Ort wach zu sein, ist eindeutig eine Fähigkeit, die wir heute dringend brauchen. Das erklärt vielleicht, warum die ‚Woke-Kultur‘ von den Reaktionären, die ihren Traum von Ansprüchen und Privilegien für immer aufrechterhalten wollen, so verteufelt wird. Die Welt, die wir Gesellschaft nennen, bröckelt nicht nur aufgrund von Kräften von außen – die wir gerne als ‚die anderen‘ bezeichnen –, sondern auch aufgrund von Kräften von innen – den unterdrückten anderen innerhalb der eigenen Gesellschaft. Ein Aspekt des Zusammenbruchs von Strukturen ist jedoch, dass er neue Möglichkeiten für spirituelles und soziales Erwachen und Wachstum eröffnet. Eine (geringfügige) Manifestation dieses Erwachungsprozesses sind Stimmen innerhalb der Waldorfbewegung, die Fragen zu den kulturellen Annahmen stellen, die den aktuellen Waldorflehrplänen zugrunde liegen.“[13] Martin Rawson

Das von der „Woke-Kultur“ bewirkte „Erwachen“ ist eine eher umgangssprachliche Umschreibung für eine Haltung, der Rawson offenbar die Autorität und Ernsthaftigkeit zuschreibt, um die „komplexen und facettenreichen Phänomene“ unserer Zeit durchdringen zu können. Um das Dekolonisierungsprojekt wirklich zu verstehen, ist es notwendig, tiefer in die begrifflichen Wurzeln der „Woke-Kultur“ einzutauchen.


An dieser Stelle allerdings erweist sich Rawson – überraschenderweise – als wenig hilfreich. In seinem ausführlichen Aufsatz Working Paper No. 10 beschränkt er seine Ausführungen zur Dekolonisierung weitgehend auf die moralische Ebene. Wo seine Sympathien liegen, wird hingegen deutlich, wenn er in seiner Kritik an Steiner postkoloniale Theoretiker und Vertreter der kritischen Pädagogik zitiert.


Dekolonisierung und materialistisches Denken

Wie viele postmoderne Theoretiker sozialer Gerechtigkeit sieht Rawson nur die einseitigen, materialistischen Schattenseiten westlicher Werte. Er verkennt – oder versteht nicht –, dass es das eigentliche Ziel der Anthroposophie ist, diese westlichen Kulturannahmen aus der Umklammerung des Materialismus zu befreien. Anthroposophie ist gewissermaßen der geistige Höhepunkt jahrhundertelanger Bemühungen zahlreicher Menschen und Bewegungen, die westliche Kultur zu transformieren – mit dem Ziel, neue menschliche Fähigkeiten zu entwickeln, die dem heutigen Entwicklungsstand der Menschheit angemessen sind. So, wie auch andere Kulturen zu anderen Zeiten ähnliche Aufgaben übernommen haben. Das reduktionistische Denken der Dekolonisierung sieht hingegen ausschließlich die Schattenseiten westlicher Zivilisation – und schüttet damit das Kind mit dem Bade aus.


Westliche Werte und Erkenntnis: Kulturell geprägte Masken der Macht?

Die westlichen Kulturannahmen, um die es geht, umfassen typischerweise: Individualität, wissenschaftliche Logik und Vernunft, universale Vorstellungen vom Wesen des Menschen und objektive Wahrheit. Aus Sicht der Dekolonisierung sind all diese Werte keine menschlichen Grundfähigkeiten, sondern kulturelle Konstrukte – erschaffen, um Machtverhältnisse zu legitimieren und zu erhalten.


Sämtliche Formen von Erkenntnis – sei sie rational, imaginativ oder beschreibend – gelten im postmodernen Denken als unentrinnbar kulturell geprägt. Die liberalen Grundannahmen seien somit bloß Masken der Macht – ohne eigene Gültigkeit oder universellen Wert. Sie sollen ersetzt werden durch „aufweckende“ Annahmen, etwa durch die Einsicht, dass die Grundwerte westlicher Kultur moralisch verdorben seien.


Diese neuen Annahmen bilden das Fundament der sogenannten kritischen Sozialgerechtigkeit und vieler Programme für Diversität, Gerechtigkeit und Inklusion (DEI). Sie lauten zum Beispiel:

  • Rasse und Geschlecht sind soziale Konstrukte

  • Die Vorstellung von „Rassen“ hat den Rassismus erst hervorgebracht

  • Menschliche Unterschiede erzeugen Diskriminierung

  • Der Mensch besitzt nicht die innere Freiheit, sich über seine kulturelle Prägung zu erheben

  • Alle Formen der Unterdrückung sind systemisch – und erfordern systemischen Wandel

  • Alle Unterdrückungen sind miteinander verbunden (intersektional)

  • Die individuelle Identität ist kulturell, nicht geistig bestimmt


Dekolonisierung: Der egalitäre Mensch ohne innere geistige Substanz

Um zu erkennen, wie die Dekolonisierung den Einfluss des Materialismus auf unsere Kultur vertieft, genügt ein Blick darauf, was sie verwirft,[14] etwa die Vorstellung, dass:

  • Jeder Mensch besitzt eine einzigartige Individualität

  • Jeder kann, unabhängig von Gruppenzugehörigkeit, ein eigenes moralisches Gewissen entwickeln

  • Individuen können – nicht nur Gruppen – Geschichte und Gesellschaft beeinflussen

  • Die Schattenseiten westlicher Gesellschaften sind durch innere Entwicklung überwindbar

  • Erfahrungen wie Geschlecht, Ethnizität oder Zugehörigkeit haben auch eine seelisch-geistige, archetypische Dimension


Im Zentrum des Dekolonisierungsdiskurses steht das Bild eines „egalitären Menschen“, dem jedoch jede innere geistige Substanz fehlt. Das wirft die grundlegende Frage auf: Was bestimmt eigentlich die kulturellen Kräfte, die den Menschen so maßgeblich formen? Da Rawson Steiners Vorstellung einer nicht-egalitären Bewusstseinsentwicklung verworfen hat, scheint ihm auch jegliche Möglichkeit zu fehlen, plausibel zu erklären, wie und warum kulturelle Kräfte überhaupt in der Weise wirken, wie es der Postmodernismus behauptet – außer durch die zufallsbasierten Ursache-Wirkung-Ketten des modernen Materialismus.


Das fehlgeleitete Ziel: Soziale Gerechtigkeit ausschließlich über soziale Kräfte

Die Begrenztheit des Dekolonisierungsansatzes zeigt sich besonders deutlich, wenn man ihn auf die konkrete Arbeit der Waldorflehrerinnen und -lehrer anwendet. Um das von Rawson propagierte „Erwachen“ zu erleben, sollen Waldorflehrerinnen und -lehrer nun „die unbewussten, unbeachteten, unausgesprochenen Annahmen, Denk- und Gefühlsgewohnheiten sowie impliziten Erwartungen erkennen, die die Waldorfpraxis prägen.“[15]


Rawson stellt dabei Fragen wie:

·       Welche Rollenbilder in Bezug auf Geschlecht und Familie werden bevorzugt dargestellt?

·       Haben People of Color eine gesellschaftliche Rolle im Unterrichtsstoff?

·       Wer wird als böse dargestellt?

·       Wie wird Kolonialismus in der Geschichtsdarstellung behandelt?

·       Wie sind andere Kulturen und Sprachen positioniert?[16]


Diese Fragen sind durchaus berechtigt – insbesondere für eine Bildungsbewegung, die ihren Ursprung in Europa hat und heute weltweit verbreitet ist. Vorurteile existieren, und Steiner selbst sprach wiederholt über ihre Gefahren. Doch indem Rawson die sogenannte „Woke-Kultur“ als notwendige Quelle der Erweckung bezeichnet, macht er bereits im Vorhinein klar, welche Antworten erwartet werden. Der Weg zur Bewusstwerdung kultureller Prägungen wird dadurch eher zu einem Bußritual als zu einem offenen Prozess der Selbsterkenntnis.


Grundsätzlich scheint es innerhalb des von Rawson vertretenen Ansatzes kaum möglich zu sein, die zugrunde liegenden kulturellen Prämissen selbst kritisch zu hinterfragen. Schon die Motivation, bestimmte Fragen zu stellen, wird häufig als Ausdruck von Privilegienverteidigung, „unbewusstem Vorurteil“ oder „weißer Fragilität“ abgetan. Obwohl Vorurteile sicherlich jeden Menschen betreffen, muss die Fähigkeit, Fragen zu stellen, als essenzieller Teil ernsthaften Wahrheitsstrebens anerkannt werden – besonders in der Pädagogik.


Es lohnt sich, daran zu erinnern, dass die soziale Gerechtigkeitsbewegung des 20. Jahrhunderts große Fortschritte erzielte, ohne sich auf postmoderne Theorien zu stützen. Sie schöpfte vielmehr aus den liberalen Werten des Westens – aus der Überzeugung von universellen Bürgerrechten, Meinungsfreiheit und Pressefreiheit. Vordenker wie Gandhi, Martin Luther King Jr., Steven Biko oder Nelson Mandela standen in dieser Tradition.


Umsetzung der Dekolonisierung im Lehrplan/an den Waldorfschulen

Wir können nun eine Vorstellung davon gewinnen, wie der von Rawson befürwortete Dekolonisierungsprozess konkret verlaufen soll:

  • Anerkennung des Eurozentrismus im Lehrplan – also die (Teil-)Wahrheit, dass häufig nur eine Perspektive in der Darstellung von Geschichte und globaler Kultur vermittelt wird, was zu Vorurteilen gegenüber nicht-westlichen Kulturen führen kann.

  • Erforschung unbewusster Vorurteile – wobei der Maßstab für Erfolg in der Übernahme des Vokabulars und der Annahmen der „Woke-Kultur“ liegt.

  • Anerkennung der kulturellen Prägung – mit der Annahme, dass sämtliche Vorurteile ausschließlich aus eurozentrischer Sozialisation herrühren.

  • Zustimmung zu Rawsons Diagnose, dass die Anthroposophie eurozentrisch oder sogar rassistisch sei – ohne ernsthaften Versuch, alternative Deutungen zu prüfen oder zuzulassen.

  • Akzeptanz der kritischen Sozialgerechtigkeitstheorien – weil diese angeblich bereits wissen, welche neuen kulturellen Prämissen die gesellschaftlichen Probleme lösen können.

  • Umsetzung dieser neuen Annahmen – zur Reform des Lehrplans, der Schulpolitik, der Personalentscheidungen und der pädagogischen Grundausrichtung.


Soziale und antisoziale Kräfte ringen um Gleichgewicht

Auffällig ist: In diesem Prozess spielt die Vertiefung der anthroposophischen Kulturkompetenz keinerlei Rolle. Rawson verkennt hierbei eine wesentliche Erkenntnis der Sozialen Dreigliederung: nämlich, dass soziale und antisoziale Kräfte – also gemeinschaftliche und individualistische Werte – im Gleichgewicht stehen müssen, damit gesunde soziale Verhältnisse entstehen können, aus denen echte Gerechtigkeit hervorgehen kann.


Dekolonisierung hingegen folgt einem materialistischen Denken, das fordert, antisoziale Kräfte (wie den Individualismus) gänzlich aus dem sozialen Organismus zu verbannen – zugunsten eines neuen „Sozialkörpers“, der nur noch aus kollektiven Kräften besteht. Steiner äußerte sich sehr deutlich zu diesem Ziel – und warnte eindringlich davor.


Die postmoderne Vorstellung besagt, dass wir – sobald das „Machtspiel“ des Liberalismus entlarvt ist – zugleich ein „Erwachen“ erleben, das uns die Ursache dafür erkennen lässt, warum Menschen andere ausgrenzen oder Unterschiede überbetonen, um sie auszugrenzen (das sogenannte Othering). Ist diese Quelle einmal aufgedeckt, entsteht die Hoffnung, dass die Menschheitskultur – sofern sie die Schleier liberaler Ideale durchschaut – am Beginn eines neuen Zeitalters stehen könnte: einer Kultur ohne das Leid und den Schmerz, die aus dem Ausgrenzungsmechanismus hervorgehen.


Individualität kann nicht abgeschafft werden

Anthroposophie legt nahe, dass das erhoffte postmoderne „Erwachen“ eine Illusion ist. Steiners tiefgreifende Einsicht – indirekt auch von Autoren wie George Orwell aufgenommen – lautet:

Individualität kann nicht abgeschafft, sondern höchstens unterdrückt werden. Wird sie unterdrückt, kehrt sie in verborgener, destruktiver Weise zurück.

Sie wird zu den Schweinen in Orwells Farm der Tiere oder zu Big Brother in 1984. Das Phänomen des „Othering“ – also die Abwertung des Anderen – verschwindet nicht, sondern verlagert sich in gefährlichere Tiefen.


Um das Othering wirklich zu verringern – gerade auf kultureller Ebene –, müssen Menschen die Fähigkeit entwickeln, sich über ihren eigenen Egoismus zu erheben. Wer den Menschen hingegen lediglich als soziales Konstrukt betrachtet, als Produkt äußerer Kräfte ohne eigenes geistiges Selbst, wird nie zur Wurzel des Problems vordringen – sondern lediglich Symptome bekämpfen.


Das soziale Hauptgesetz und die Waldorfpädagogik

Nach Steiner besteht die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins darin, dass die Individualität allmählich erstarkt. Umso wichtiger ist es, diese mit den sozialen Kräften von Gleichheit im Rechtsleben und einem Ausgleich zwischen Individualismus und Gemeinsinn im Wirtschaftsleben zu verbinden. Sein sogenanntes „Soziales Hauptgesetz“ besagt: Solange wir Egoismus in die soziale Ordnung einbauen, wird menschliches Leid bestehen bleiben.

Ironischerweise ist es gerade das auf Steiners Menschenbild gegründete pädagogische Prinzip der Waldorfschulen – verbunden mit einem kreativ angepassten Lehrplan, der auf kultureller Vielfalt und gegenseitigem Verstehen beruht –, das junge Menschen am besten auf die wachsenden gesellschaftlichen Herausforderungen vorbereiten kann. Warum? Weil es eine Pädagogik ist, die lebendiges Denken, kultiviertes Fühlen und tätigen Willen fördert – und junge Menschen davor bewahrt, in abstrakte intellektuelle Sozialtheorien abzugleiten.


Die Befreiung westlicher Werte vom Schatten der Macht

Jede Kultur besitzt archetypische Motive in ihren Mythen, die den Weg des Bewusstseins spiegeln. Jede Kultur bringt Persönlichkeiten hervor, deren Biografien nicht nur regional, sondern menschheitsgeschichtlich bedeutsam sind. Die Fähigkeit, zwischen positiven Werten und ihren Schattenseiten zu unterscheiden – etwa zwischen Individualität und Egoismus oder zwischen Vernunft und Rationalisierung –, ermöglicht es, sich aus der irreführenden postmodernen Vorstellung zu lösen, dass Wissen und gesellschaftliche Strukturen stets Ausdruck von Macht seien.


Die dunklen Seiten einer Kultur entstehen nicht aus den Idealen selbst, sondern aus deren Missbrauch. Gesellschaften entstehen weit mehr durch Ideen und Ideale als durch Machtverhältnisse. Jede Kultur geht ursprünglich aus einem geistigen Impuls hervor. Die Ideale der Aufklärung – wie Vernunft, Logik, individuelle Freiheit und Fortschritt – sind heute durch den Materialismus belastet. Doch sie waren nicht von Anfang an Mittel zur Machtausübung. Vielmehr wirken korrumpierende Kräfte auf sie ein, nicht formende. Die Dekolonisierung vermischt Ideale mit ihrer entarteten Form und geht davon aus, dass diese Ideale nie aus aufrichtigen Motiven hervorgegangen seien. Die Anthroposophie hingegen sieht in ihnen neue menschliche Fähigkeiten, die – vom Materialismus entstellt – nun wieder befreit werden müssen.


Waldorfpädagogik fördert den individuellen menschlichen Entwicklungsweg

Durch das von der sozialen Dreigliederung geforderte Gleichgewicht zwischen gemeinschaftlichen und individualistischen Kräften ergibt sich ein Gestaltungsplan zur Umwandlung sozialer Macht. Nicht die Anthroposophie, sondern der postmoderne Sozialismus stellt in Wahrheit die veraltete Strategie dar – denn er verkörpert das alte, aus dem 20. Jahrhundert stammende Programm, Machtverhältnisse durch Revolution zu verändern, anstatt sie in eine befreiende und fortschrittliche Form von Postmoderne zu transformieren.[17]


Zur Unterstützung eines solchen menschlichen Entwicklungsweges fördert die Waldorfpädagogik ein freies moralisches Gewissen bei den Schülern:

·       durch Liebe zur Welt in den unteren Klassen,

·       durch Idealismus in der Mittelstufe,

·       und durch soziale Verantwortung in der Oberstufe.


So entwickeln sich junge Menschen zu ganzheitlich gebildeten Persönlichkeiten, deren Denkfähigkeit erst um das 21. Lebensjahr vollständig gereift ist – eine Einschätzung, die auch von der Neurowissenschaft gestützt wird. Erst dann können sie zu wirklich freien Individuen werden, die eigene moralische und politische Entscheidungen treffen. Das jedoch ist nur möglich, wenn sie zuvor nicht mit den moralischen Normen und politischen Meinungen Erwachsener indoktriniert wurden.


Die Illusion des egalitären Menschenbilds

Das postmoderne Ideal des „egalitären Menschen“ ist eine Illusion – denn es ersetzt das wahre Bild des Menschen lediglich durch eine neue politische Ideologie. Diese basiert auf der Vorstellung, dass der Mensch und seine sozialen Formen ausschließlich durch äußere Kräfte bedingt und somit losgelöst von inneren, archetypischen Erfahrungen seien. Linkes Denken unterliegt hier der Täuschung, dass nur Gleichheit zu Gerechtigkeit führe.[18] In der Folge drohen Theorien, die jegliche Unterschiede abschaffen wollen, auch das tiefere, universelle Bild des „archetypischen Menschen“ zu verlieren – jenes Bild, das die Anthroposophie in die Mitte stellt.[19] Die Soziale Dreigliederung zeigt, dass soziale Gerechtigkeit nur durch das Zusammenspiel dreier Ideale erreicht werden kann: Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit – jeweils dort, wo sie ihrer Natur nach hingehören. Die Gleichheit gehört ins Rechtsleben, die Freiheit ins Geistesleben, die Brüderlichkeit ins Wirtschaftsleben.


Die neue Erkenntnisweise der Anthroposophie

Die Dekolonisierung ist in erster Linie von politischen Zielen geleitet, nicht von einer an der kindlichen Entwicklung orientierten Pädagogik. Rawson fügt der Waldorfpädagogik dabei einen tiefgreifenden und, man muss sagen, unverzeihlichen Schaden zu, indem er die von Steiner entwickelten Gedanken zur sozialen Gesundung – aus denen Gerechtigkeit erst hervorgehen kann – ignoriert und andere dazu ermutigt, es ebenso zu tun. Dies ist Teil einer umfassenderen und ebenso befremdlichen Verwerfung zahlreicher klar erkennbarer Merkmale der Anthroposophie, wie zum Beispiel:

  • das Denken mit dem Herzen

  • die goetheanistische Naturwissenschaft

  • die Ausbildung des „Ich“-Bewusstseins

  • das Streben nach wahrhaft freien moralischen Handlungen

  • die Imagination als Gegengewicht zur Verkopfung

  • die ausgewogene Verbindung von intellektuellem, sozialem und künstlerischem Lernen, usw.


All das entspringt nicht aus den Schattenseiten westlicher Kultur, sondern aus der inneren Weisheit westlicher esoterischer Strömungen und beruht auf dem Streben von Eingeweihten, westliche Erkenntniswege durch universelle geistige Einsichten zu verwandeln – ein Erkenntnisanspruch, den Rawson jedoch ablehnt. Sein Vorwurf des „Eurozentrismus“ ist haltlos, wenn man die Anthroposophie als Gegenbewegung zum Einfluss des Materialismus auf die westliche Kultur versteht.


Zukunftsweisende waldorfpädagogische Prinzipien

Statt solcher unbedachten und oberflächlichen Maßnahmen, die der kindlichen Entwicklung nicht gerecht werden, können Lehrkräfte auf bewährte waldorfpädagogische Prinzipien zurückgreifen – etwa auf die Vielfalt der Perspektiven oder die methodische Bewegung vom Ganzen zu den Teilen. Ein Beispiel: In der siebten Klasse kann das Thema „Entdeckungsreisen“ so gestaltet werden, dass sowohl die Beweggründe der europäischen Entdecker - die unter anderem von echtem Entdeckergeist geleitet waren -, als auch die Sichtweise der indigenen Völker zur Sprache kommen. Wenn beide Perspektiven dargestellt werden, entsteht bei den Schülern das Gefühl, dass es immer ein größeres Ganzes gibt als das, was eine einzelne Sichtweise vermitteln kann. Für die weißen Siedler ist es die Geschichte eines Verrats an den eigenen erklärten Werten – was sich objektiv belegen lässt – und zugleich die Möglichkeit einer Wiedergutmachung durch Versöhnung.

Die europäischen Beweggründe ausschließlich als korrupt darzustellen und ihr Handeln als grundsätzlich unentschuldbar, ist geschichtlich ungenau und unwahr.

Waldorflehrerinnen und -lehrer können – wenn sie sich von den ideologischen Voraussetzungen der Dekolonisierung lösen – ihr kulturelles Verständnis durch die anthroposophische Erkenntnisweise entwickeln und vertiefen. Diese stellt die Grundlagen der westlichen, materialistischen Kultur infrage und betont deren geistige Aufgabe: nämlich bestimmte menschliche Fähigkeiten auszubilden, die für die weitere Entwicklung der Menschheit notwendig sind – ein Ziel, das im Zentrum der Waldorfpädagogik steht. Dafür braucht es eine gründliche, offene und ehrliche Auseinandersetzung mit dem, was die Anthroposophie zu Fragen der sozialen Gerechtigkeit tatsächlich beitragen kann.

 

Fazit

Lehrerinnen und Lehrer benötigen keine Dekolonisierungstheorie, um sozialen Fragen kreativ und verantwortungsvoll zu begegnen. Die breitere und offenere Geschichts- und Kulturpädagogik, die heutige Schülerinnen und Schüler brauchen, liegt vielmehr in einer tiefgreifenden, sinnvollen Umsetzung von Multikulturalität – durch die bewusste Anwendung der waldorfpädagogischen Prinzipien von Vielstimmigkeit der Perspektiven und dem methodischen Weg vom Ganzen zu den Teilen. Diese Prinzipien ermöglichen es, soziale Realität beständig ausgehend vom allgemein Menschlichen bis hin zu ihren kulturellen Ausprägungen zu gestalten.


Dieser Beitrag erschien zunächst in erWACHSEN&WERDEN 08/25


Autorennotiz:

*Mark McGivern, Bachelor in Philosophie und Vergleichender Entwicklungsforschung an der Trent University in Ontario. Lehrer für Englisch am Toronto Centre for Victims of Torture sowie für neu zugewanderte Menschen in Kanada. Lehrtätigkeit in Nicaragua, Japan und Dubai. 2001 Ausbildung zum Waldorfklassenlehrer und anschließend sechs Jahre Unterricht in Waldorf-Mittelstufenklassen in Nelson, British Columbia. Autor des Buches Tolkien’s Hidden Pictures: Anthroposophy and the Enchantment in Middle Earth, (Steinerbooks, 2022). Unterricht am Rudolf Steiner College Canada im Grundlagenstudium der Anthroposophie, entwickelt und schreibt Online-Kurse zu anthroposophischen Themen. Lebt in Victoria, British Columbia, Kanada.

 

[2] Die Originalfassung kann gegen Bezahlung hier nachgelesen werden: https://www.newview.org.uk/issue_landing.php?issue=115 Die Übersetzung hat uns dankenswerter Weise Johannes Kühl aus Dornach zur Verfügung gestellt.

[3] Rawson, Martyn, Working Paper Nr. 10, – „Decolonising Waldorf Curriculum“ (Die Dekolonisierung des Waldorf-Lehrplans). https://e-learningwaldorf.de/wp-content/uploads/2023/08/No-10-Decolonizing-Waldorf-Curriculum.pdf

[4] Primrose H. und Lindsey J., Cynical Theories (Pitchstone Publishing, 2020), S. 59.

[5] Rawson, Martyn, Working Paper Nr. 10, S. 51.

[6] Ebenda, S. 1.

[7] Ebenda, S. 1.

[8] Ebenda, S. 1.

[9] Ebenda, S. 5.

[10] Siehe Robert Karps Aufsatz: Social Justice in the Light of Anthroposophy (Soziale Gerechtigkeit im Licht der Anthroposophie).

[11] Siehe meinen Aufsatz: Social Threefolding as a Guide to Social Justice Theory and Practice (Soziale Dreigliederung als Leitbild für Theorie und Praxis sozialer Gerechtigkeit) https://drive.google.com/file/d/19W2FejcvnpC2QdPq3KGwFhMQ-lpcx9tU/view?pli=1.

[13] Rawson, M. und Bransby, K., Rethinking Waldorf Curricula, Research Bulletin Herbst/Winter 2022, S. 1.

[14] In den vier DEI-Workshops (Diversität, Gerechtigkeit und Inklusion) der Waldorfpädagogik, an denen ich teilgenommen habe, wurde nie über die Gestaltung einer sozialen Ordnung nach der Überwindung von Ungerechtigkeit gesprochen. Das erstaunt mich sehr, zumal ich mehrfach den Aufruf gehört habe, „alles niederzureißen“, mit der Begründung, dass Unterdrückung systemisch in die westliche Kultur eingebettet sei. Übersehen wird dabei nicht nur Steiners Konzept der sozialen Dreigliederung, sondern auch die Geschichte der Sozialtheorie insgesamt. Bedeutende moralische Denker wie Noam Chomsky und Murray Bookchin haben intensiv daran gearbeitet, wie eine dezentralisierte und befreiende Gesellschaftsordnung aussehen könnte. Dennoch vermeiden es Kritiker der gegenwärtigen kritischen Sozialgerechtigkeit, die Art der Macht zu beschreiben, die sie selbst anzustreben scheinen.

[15] Rawson, Martyn, Working Paper Nr. 10, S. 16.

[16] Ebenda, S. 14.

[17] Eine eingehende Untersuchung der sozialen Dreigliederung zeigt, dass Gleichheit weder im kulturellen noch im wirtschaftlichen Bereich Gerechtigkeit hervorbringt. Die von anarchistischen Sozialtheoretikern wie Chomsky und Bookchin geforderte Dezentralisierung sozialer Macht erfordert eine ebenso starke Differenzierung dieser Macht auf die drei gesellschaftlichen Sphären. Dieser Schritt der Differenzierung, von Steiner insbesondere in der Assoziativen Wirtschaft brillant ausgearbeitet, ist der entscheidende Moment im transformatorischen Potenzial der sozialen Dreigliederung – ein Aspekt, den moderne Sozialtheoretiker bislang weitgehend übersehen.

[18] Sozialkonservatismus leidet darunter, dass er Freiheiten für Konzernmacht unterstützt, die eigentlich nur Individuen zustehen sollten, und den Staat dazu benutzt, diese wirtschaftliche Macht zu fördern. Heute hat sich dieses Verhältnis im Neoliberalismus verfestigt, in dem der Staat primär als Diener privatwirtschaftlicher Macht agiert. Die soziale Dreigliederung bietet Einsicht darin, wie diese gesellschaftlichen Bereiche so aufeinander abgestimmt werden können, dass sie einander ergänzen, statt einander zu beherrschen.

[19] Belege hierfür finden sich in der Critical Race Theory, der Queer Theory, der Postcolonial Theory und der Kritischen Pädagogik.


 


 

3 Kommentare


c.enning
09. Aug.

Sehr guter Artikel, danke. Da ich schon lange im Ruhestand bin, habe ich einige Strömungen an den Waldorfschulen um mich rum, nicht einordnen können. Die soziale Dreigliederung ist universal und kann gar nicht dem Zeitgeist unterlegen sein! Hoffnung!

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christian-sh
08. Aug.

Der Autor Mc Givern spricht in seinem Beitrag oft von der Anthroposophie, genauer ausgedrückt könnte man von dem Erkenntnisweg, der Erkenntnismethode der Anthroposophie sprechen , um dem Missverständnis vorzubeugen es handele sich bei dem als Anthroposophie bezeichneten um eine Lehrmeinung, oder um Wissensinhalte oder Glaubenssätzte. Insbesondere die differenzierte Untersuchung des Sozialen in Bezug auf die dre Bereiche Kultur, Rechtsleben und Wirtschaften, ist eine methodische Vorgehensweise.

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cornelis
08. Aug.

"Anthroposophie ist ein Erkenntnisweg..." (Anfang des ersten "Leitsatzes"): Hier scheiden sich für mein Verständnis heute mehr denn je die Geister - meist vollkommen unbemerkt! Ganz schnell wird der "ErkenntnisWEG" umgemünzt in "die Erkenntnis", und diese wiederum nicht als Vorgang verstanden, sondern als Produkt. Und schon ist aus dem "Erkenntnisweg" eine "Ideologie" geworden: ein System von festgelegten Gedanken, die tatsächlich in erster Linie der Machtausübung dienen. Früher nannte man das "Dogmen", und man brauchte Gewalt, um die Menschen zu "überzeugen". Heute ist das Wort "Ideologie" - ursprünglich fast ein Schimpfwort - vollkommen salonfähig: Man spricht auch im ganz positiven Sinn von Ideologien und meint, man müsse eben nur die richtigen haben (und die falschen entsprechend bekämpfen).


Zu alledem ist dieser Versuch…


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