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Der Kulturkampf der Gegenwart

Aktualisiert: 8. Aug.

Einheitswahn und Differenzierungswahn


Von Andreas Neider


Der Menschheitsrepräsentant - Holzplastik von Rudolf Steiner
Der Menschheitsrepräsentant - Holzplastik von Rudolf Steiner

Editorial erWACHSEN&WERDEN 08/25

 

Gegenwärtig wird Deutschland – und eigentlich ganz Europa, wenn nicht sogar die ganze Erde von einem Kulturkampf beherrscht, dem Kampf zwischen linken und rechten Ideologien. Am deutlichsten hat sich das am 10. Juli in der gescheiterten Wahl einer Richterin für das Bundesverfassungsgericht gezeigt, der links orientierten Verfassungsrechtlerin Frauke Brosius-Gersdorf. Dieser Eklat im deutschen Bundestag ist nur ein drastisches Symptom eines viel tiefer reichenden Kampfes um die Vorherrschaft im politischen und sozialen Leben der Gegenwart.


Was für uns an dieser Stelle entscheidend ist, das ist aber die Tatsache, dass sich dieser Kulturkampf inzwischen auch auf die Waldorfschulbewegung ausgedehnt hat, wo er sich z.B. in der immer wieder laut werdenden Forderung „Klare Kante gegen rechts“ geltend macht, aber auch, wie man in dem in dieser Ausgabe abgedruckten Artikel des kanadischen Waldorflehrers Mark McGivern nachlesen kann, in der „Dekolonisierung“ des Waldorflehrplanes durch den an die Alanus-Hochschule neu berufenen Professor für Erziehungswissenschaften, Martyn Rawson.


Was aber verbirgt sich konkret hinter diesem Kulturkampf?

Rudolf Steiner hat ja bekanntlich in der Zeit des ersten Weltkrieges und danach an einer großen Holzplastik, dem von ihm sogenannten „Menschheitsrepräsentanten“ unermüdlich gearbeitet – während eines Krieges, in dem es auch um die heute wieder sichtbaren linken und rechten Ideologien ging. Um das von uns hier gemeinte Spannungsfeld jenes Kulturkampfes deutlicher zu machen, sei hier eine sehr bezeichnende Passage aus einem Vortrag Rudolf Steiners während des ersten Weltkrieges im Hinblick auf die Holzplastik des Menschheitsrepräsentanten zitiert:


„Sehen Sie, da haben wir das Zusammenwirken einer Dreiheit. Wenn Sie einmal unsere Holzplastik, nachdem sie fertig sein wird, anblicken werden, dann werden Sie die Dreiheit plastisch zum Ausdruck gebracht sehen. Wir haben die Dreiheit einer fortgehenden Entwickelung, die aber gefälscht ist: die gefälscht ist nach oben durch den Einheitswahn der Vorstellungen, gefälscht nach unten durch den falschen Differenzierungswahn, was schon kein Wahn mehr ist, sondern eine Tatsache: das Zerklüften, das Zerspalten der Menschheit in sogenannte Nationen nach den Sprachen.“[1]

Den „nach oben“ strebenden „Einheitswahn“ bezeichnet Steiner als „luziferisch“, den nach unten gerichteten „Differenzierungswahn“ als „ahrimanisch“.


Was meint er damit, und was hat das mit dem von uns genannten „Kulturkampf“ zu tun?

Hinter dem „Einheitswahn“ können wir die vor allem von linker Seite immer wieder geforderte „Einheit der Wissenschaft“ erblicken, ob nun in der Genderdebatte, in der Debatte um den Klimawandel oder in der Debatte um die Coronapandemie. Dieser „Einheitswahn“ kommt heute besonders stark in der in der zunehmenden Einheitlichkeit der Presselandschaft, aber auch an den Universitäten zum Ausdruck, wo abweichende Meinungen „gecancelt“ und mit Ausschluss geahndet werden, wie etwa der Fall der Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot deutlich gezeigt hat.


Auf der anderen Seite verbirgt sich hinter dem „Differenzierungswahn“ das Bestreben von extrem rechter und völkisch identitärer Seite, nicht deutschstämmige Migranten in ihre Herkunftsstaaten zurück zu schicken, also Remigration in großem Stil bis hin zur Schließung aller europäischen Grenzen und der Umbildung Europas zu einer Art Festung – ein Projekt, das gegenwärtig in den USA von Donald Trump in aggressivster Art und Weise bereits umgesetzt wird.[2]


Was aber setzt Rudolf Steiner diesen luziferisch-ahrimanischen Vereinseitigungen linker und rechter Ideologien entgegen?

In dem zitierten Vortrag heißt es dazu:

„An die Stelle der monistisch-wahnhaften Einheitsnatur alles Wissens ist nun das getreten, was eigentlich im richtig verstandenen Christentum liegt: das Verstehen, aber das Nicht-Aufdrängen desjenigen, was man selber meint, das Suchen der Wahrheit in der anderen Menschennatur. … So daß es wieder für die Menschen und für jedes Zeitalter ein Ideal werden kann, überall, wo es sein soll, auf der Erde zu finden eine individuell gestaltete Wahrheit, jetzt nicht aus dem eben von Luzifer schon ganz in den Wahn hinein verschossenen bloßen Intellekt heraus, sondern von Seelen, von Herzen heraus dasjenige zu finden, was wahr ist; gewissermaßen jeden Menschen auf seine eigene Art finden zu lassen, was wahr ist.“ (A.a.O., S. 149)

Und dem ahrimanischen Differenzierungs- und Nationalitätsprinzip gegenüber spricht Steiner in anderen Zusammenhängen immer wieder von der Notwendigkeit des sozialen Verständnisses, des Verständnisses des „fremden Wollens“. Dieses spricht im Hinblick auf den Waldorflehrplan auch Mark McGivern in seinem Artikel in dieser Ausgabe an. Dabei sei vor allem an das Prinzip der „Völkerverständigung“ erinnert, das sich vor allem auf kulturellem, aber auch auf kulinarischem Gebiet am allerbesten erreichen lässt, wie zahllose Erfahrungen des kulturellen Austausches, ob im Bereich der Musik, der Literatur, des Theaters oder der sonstigen Bildung immer wieder bewiesen haben.


Es kann also weder um eine Egalisierung und Unterdrückung des individuellen menschlichen Wesens zugunsten einer linksideologischen „woken“ Einheitswissenschaft gehen, noch um die Abgrenzung von Menschengruppen im Sinne nationalistischer Separierungsbestrebungen, sondern es braucht zum Ausgleich der luziferischen Einheitsbestrebungen und der ahrimanischen nationalistisch-völkischen Bestrebungen eine gesunde Mitte, die sowohl ein vom Herzen getragenes individuelles Weisheitsstreben wie ein soziales Verständnis für das uns zunächst fremde menschliche Wesen ermöglicht.


In diesem Sinne wünschen wir Ihnen eine erholsame Sommerzeit und einen gelingenden Start in das neue Schuljahr.


[1] Vortrag vom 18.7. 1915 in GA 162, S. 148.

[2] Als Beispiel sei hier nur die innerhalb der AFD geführte heftige Debatte um die wechselnden Positionen ihres Abgeordneten Maximilian Krah genannt, siehe dazu: https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/finger-weg-von-der-staatsangehoerigkeit-afd-politiker-krah-distanziert-sich-von-voelkischer-ideologie-li.2323201


Foto: anthrowiki

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