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Lob als Anlass zur Selbstkritik?

Von „Scheinwesen" und „Kompromisslerei"

Von Christoph Hueck


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Editorial erWACHSEN&WERDEN 10/25

 

Als die erste Waldorfschule in Stuttgart auf der Uhlandshöhe im Juli 1920 ihr erstes Schuljahr abgeschlossen hatte, wandte sich Rudolf Steiner mit einer denkwürdigen Ansprache an die versammelte Lehrerschaft.1


Die Waldorfpädagogik, so sagte Steiner damals, sei untrennbar mit der Anthroposophie verbunden. Die pädagogische Arbeit müsse von einer tiefen spirituellen Grundlage getragen sein, die sich von der Anthroposophie ableitet. Sie müsse aus einer bewussten Hinwendung zur spirituellen Tätigkeit des Menschen belebt werden.


Viele gute reformpädagogische Grundsätze, so Rudolf Steiner, seien zwar richtig formuliert, aber aus einer im Kern doch materialistischen Einstellung heraus gedacht. Stattdessen müsse ein „neuer Geist“ gefunden werden. Denn der Materialismus führe dazu, dass die Menschen zu Denkautomaten werden, die nur noch körperlich denken, fühlen und wollen können. Die Menschheit, so sagte Rudolf Steiner schon damals, stehe in der Gefahr, durch den Materialismus „die Seele zu verlieren“. Und er fügte hinzu: „Dies ist eine ernste Sache“.

Die Anthroposophie hat daher die Aufgabe, das Geistig-Seelische wieder aus dem Leiblich-Physischen „herauszurei­ßen“ und den Menschen in eine höhere Sphäre zu erheben, damit er nicht zu einem bloßen „Denk-, Fühl- und Empfindungsautomaten“ wird.


Steiner warnte vor einer Entwicklung, in der das Geistig-Seelische in eine ahrimanische Welt übergeht und sich im Weltall verflüchtigt. Die Waldorfpädagogik ist deshalb als Antwort auf diese Gefahr und aus der Erkenntnis der Notwendigkeit einer spirituellen Betätigung der Menschheit entstanden. Sie ist ein lebendiger Impuls, der in der Praxis zur Erziehung und Didaktik umgesetzt wird. Die Lehrer der Waldorfschule seien Berufene, die durch ihre Arbeit zur anthroposophisch-kulturellen Wiederbelebung der Kultur beitragen sollen.


Die Waldorfschule habe deshalb einen volkspädagogischen Auftrag. Sie solle nicht nur ein isoliertes Bildungsprojekt sein, sondern eine tragende Rolle in der kulturellen Entwicklung Mitteleuropas einnehmen. Der Geist der Waldorfschule solle sich, so Rudolf Steiner, zu einem allgemeinen Geist der mitteleuropäischen Kultur entwickeln, um der Gefahr einer materialistischen Zivilisation entgegenzuwirken.


Außerdem müsse die Waldorfschule vor „Scheinwesen“ und „Kompromisslerei“ bewahrt werden. Steiner forderte die Lehrerschaft auf, sich klar und unnachgiebig auf den anthroposophischen Standpunkt zu stellen und keine Kompromisse mit materialistischen oder anderen pädagogischen Einflüssen einzugehen. Nur so sei es möglich, den Geist der Waldorfschule zu bewahren. Die Lehrer sollten sich innerlich frei halten von äußeren Einflüssen und sich auf ihre anthroposophische Überzeugung konzentrieren, auch wenn dies von außen Kritik oder Ablehnung mit sich bringe.


Steiner machte deutlich, dass Lob von Seiten der pädagogischen Fachwelt kein Zeichen für Richtigkeit der Waldorfpädagogik sein könne. Im Gegenteil: Wenn die Waldorfschule von denjenigen gelobt wird, die im heutigen Erziehungswesen drinnenstehen, sollte dies Anlass zur kritischen Selbstprüfung sein. Das Lob könne ein Zeichen dafür sein, dass man von seinem eigenen Weg zu sehr abgewichen ist. Die Lehrer sollten daher sehr genau prüfen, was nicht richtig läuft, wenn sie von außen Anerkennung erhalten.


Die Lehrerinnen und Lehrer müssten also im „tiefsten Sinne des Wortes“ Anthroposophen sein, was bedeutet, dass sie die anthroposophische Weltanschauung wirklich leben und ernst nehmen. Steiner betonte in diesem Zusammenhang die Bedeutung der Präexistenz und Unsterblichkeit der Seele, dass also die Kinder, die sie unterrichten, aus der geistigen Welt herabgestiegen sind und ihnen eine Botschaft aus dieser Welt bringen. Dieses Bewusstsein sei eine „rechte Lehrermeditation“ von großer Bedeutung, da es den Lehrern ermöglicht, das Kind nicht nur als physischen Menschen zu sehen, sondern als geistig-seelisches Wesen mit einer individuellen Geschichte und Zukunft.


Schließlich betonte Rudolf Steiner, dass sich die Lehrer bewusst sein sollen, dass ihre Tätigkeit aus einem welthistorischen Impuls heraus geschieht. Sie sollen sich nicht nur als Pädagogen, sondern als Träger eines großen geistigen Auftrags verstehen, der die Menschheit in ihrer Entwicklung unterstützen soll. Diese Haltung ist Grundlage für die Ernsthaftigkeit und Tiefe, mit der die Waldorfpädagogik umgesetzt werden muss.

*

Diese Ausführungen Rudolf Steiners sind wohl an Klarheit und Nachdruck kaum zu überbieten. Hat sich die Waldorfpädagogik in den letzten 100 Jahren an ihnen orientiert? Orientiert sie sich heute an ihnen? Wo sind die führenden Persönlichkeiten, die diesen Auftrag der Waldorfschule verstehen und vertreten?


Das vorliegende Heft erscheint zu Michaeli, dem Fest des Zeitgeistes der Freiheit und der individuellen Verbindung mit dem Geistigen, mit dem, was wahr, gut und schön ist. Wir wünschen Ihnen Freude und gute Anregungen bei der Lektüre. Und wenn es Ihnen gefällt, dann schenken Sie das Heft doch weiter.


1 Rudolf Steiner: Zum Geist der Waldorfpädagogik. Ansprache zur Konferenz der Stuttgarter Waldorfschule am 24.07.1920. In: GA 300a: Konferenzen mit den Lehrern der Freien Waldorfschule in Stuttgart 1919-1924. Erster Band. Dornach 1975. Akanthos Akademie Edition, Stuttgart.


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