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DIE ZWEI TORE DER ERZIEHUNG

Audiopädie: Ermutigung für eine neue Pädagogik



Der nachfolgende Beitrag ist ein Ausschnitt aus einer Veröffentlichung von Reinhild Brass, die 2023 bei der „edition zwischentöne" unter dem Titel „Audiopädie - Ermutigung für eine neue Pädagogik" erschienen ist. Wir danken dem Verlag für die Genehmigung der auszugsweisen Veröffentlichung,.

Rudolf Steiner wies uns Lehrer darauf hin, dass wir im Unterricht zwei Tore haben, durch die wir am stärksten die Kinder erreichen können. Diese sind das Sehen und das Hören. Durch diese beiden Sinnestätigkeiten erreichen wir zunächst die Kinder. Und in gewisser Weise sind es diese beiden Polaritäten, die zusammenwirken und sich gegenseitig steigern. In den Vorträgen zur meditativ erarbeiteten Menschenkunde1 schildert Rudolf Steiner, wie diese beiden Kräfte Sehen und Hören polar in uns wirken. Durch die Durchdringung von Wahrnehmung und Erinnerung entwickelt sich das Verstehen im mittleren rhythmischen System. Die Wahrnehmung des Sehens geschieht mit dem Nerven-Sinnes-System und die Erinnerung des Gesehenen findet im Bewegungs-Gliedmaßen-Menschen statt. Für das Hören gilt es genau umgekehrt: Die Erinnerung des Gehörten findet im Nerven-Sinnes-System statt und die Wahrnehmung des Gehörten im Bewegungs-Gliedmaßen-Bereich. Das fühlende Verstehen ist für beide im Atem-Puls-Bereich, wo die Durchdringung des Sehens und des Hörens geschieht.


Das bedeutet, dass die Hörwahrnehmung über die Bewegung und die Sehwahrnehmung über das Bild geschieht. Es ist von großer Bedeutung, sich diese Vorgänge wirklich klarzumachen. Denn daraus lässt sich der Bewegungsanteil für das Hörgeschehen ableiten. Außerdem muss hier die Bedeutung der äußeren und inneren Bewegung in den verschiedenen Altersstufen beachtet werden.


Ich möchte zunächst diese beiden Polaritäten herausarbeiten, um dann in einem nächsten Schritt die Bedeutung der drei Stufen Imagination, Inspiration und Intuition zu beleuchten.

In den fast hundert Jahren der Waldorfpädagogik ist in allen Klassen – in jedem Fall während der Klassenlehrerjahre – bildhaft unterrichtet worden. Der Lehrer ist gefordert, seine Fantasiekräfte anzustrengen und die Inhalte des Unterrichts in Bilder zu kleiden. Schon das Wort „kleiden“ deutet darauf hin, dass der Inhalt in einem Kleid erscheint.


Dieses Kleid sollte passen, schön sein und wahr. Dann tauchen die Kinder in den Inhalt ein, erleben eine Farbigkeit und können sich mit dem Inhalt stärker verbinden, sie können sich das Kleid anziehen. Das Bild lässt den Inhalt zum Leben erwachen.


Unvergesslich ist mir aus dem Englischunterricht der 11. Klasse – nun schon fast 50 Jahre her – die Schilderung des Lehrers von der Gestalt Hamlets. Er erzählte von seiner Kleidung, dem schwarzen Umhang, dem Gang, der fest und zielsicher war, wie er beim Gehen den Umhang hinter sich warf. Dann fragte er uns, ob Hamlet grüne Haare gehabt hätte. Das war unfassbar und unvorstellbar! Aber allein diese für uns damals unmögliche Frage bewirkte, dass sich überhaupt ein Bild Hamlets in uns einprägte. Hamlet lief vor uns auf und ab, und wir wussten alle, dass er schwarze Haare hatte. So wurde er lebendig für uns und so haben wir sicher noch viel mehr von ihm aufgenommen als jede nüchterne Schilderung.

Das ist das Geheimnis des Bildes. Es vermittelt mehr, als der Inhalt hergibt, es regt die Fantasie an und durch die daraus entstehenden Gefühle kann man sich mit der Person oder dem Vorgang eng verbinden.

Das Gelernte wird meins und bleibt nicht ein Fremdkörper in mir, den man möglichst bald wieder abstoßen muss. So kann der Inhalt sich im Gedächtnis verankern, ja wird zu einem lebendigen Quell, der uns das ganze Leben begleiten kann. Das ist Bildung – etwas, was uns bildet und ernährt, uns Weltsicht gibt. Diese Bildekräfte bilden uns von innen, ja, die Bilder wachsen mit uns weiter.


Wir lernen nicht, um es gleich wieder zu vergessen, sondern um Schätze für unser Leben in uns zu tragen. Das so Gelernte kann Orientierung geben und vor allem Nahrung. Das ist Bildung – etwas, was uns bildet und ernährt, uns Weltsicht gibt. Diese Bildekräfte bilden uns von innen, ja, die Bilder wachsen mit uns weiter. Das ist vielleicht das größte Geheimnis: Sie bleiben nicht wie Begriffe unveränderlich in uns. Bilder sind in jedem Lebensalter neu anzuschauen, sie geben uns immer neue Ansichten und Einsichten. Die Kleider der Bilder wachsen mit!


Diese schaffende Kraft, die der Lehrer aufbringt, wenn er ein Bild entwickelt, die ist es, durch die wir lernen. Je stärker der Lehrer sich bemüht, ein Bild zum Leben zu erwecken, desto leichter nimmt das Kind den Inhalt auf.


Ganz andere Kräfte wirken in allem, was über die Musik, über den Klang aufgenommen wird. Die musikalischen Kräfte wirken von außen auf den Menschen. Sie kommen aus der Natur.

Durch alles das, was in der Natur vor sich geht, geht ja eine geheimnisvolle Musik: die irdische Projektion der Sphärenmusik. In jeder Pflanze, in jedem Tier ist eigentlich ein Ton der Sphärenmusik inkorporiert.(2) Rudolf Steiner

Und weiter beschreibt Rudolf Steiner, dass die Kinder dieses alles unbewusst in sich aufnehmen, und das macht, dass sie in hohem Grade musikalisch sind. Aber alle Musik, alles Klingende ist Bewegung, dringt von außen an uns heran. Es ist nicht Bild und kann im Bild auch nicht erfasst werden. Klang ist Schwingung, Schwingung ist Bewegung. Etwas klingt, es schwingt in mir weiter, es bewegt mich von außen und dann bewegt es mich innen.

Es bringt nicht nur den Körper in Bewegung, es bringt auch die Seele in Bewegung. Zunächst kommt der Körper in Schwingung, dann um das 9. Lebensjahr geschieht ein Umschwung, der Weg von der äußeren Bewegung in die innere Bewegung. Die körperliche Bewegung wird zur seelischen Bewegung. Jetzt resoniert nicht mehr der Körper allein, jetzt resoniert die Seele mit. Hören ist ein Resonanzvorgang.


Im Hören bin ich immer zwischen mir und dem, was klingt. Ich bin in Balance, beziehungsweise ich bin im Gleichgewicht zwischen innen und außen. Das macht die Angelegenheit manchmal so schwer. Während das Bild immer außerhalb von mir bleibt, muss ich im Hören blitzschnell zwischen innen und außen hin und her schwingen. Der Vorgang ist hoch empfindlich und leicht zerstörbar. Es braucht die Konzentration aller, die mit in dem Hörvorgang sind. Fällt einer heraus, so kann es geschehen, dass die Hülle, die sich durch das Hören um alle gelegt hat, für alle zusammenbricht. Das gemeinsame Hören, das die Hörer auch alle miteinander verbindet, ist wie eine Haut, die sich bildet. Sobald einer aussteigt und etwas anderes macht, zerreißt die Hülle.


Das Bildschaffen ist in diesem Sinn stabiler, nicht so leicht zerstörbar, nicht so fragil. Steigt einer innerlich aus, so können alle anderen ihr Bild dennoch in sich halten.



 

Reinhild Brass hat in langjähriger Arbeit „Audiopädie" als neuen Weg des Hörens, auch für den Musikunterricht, entwickelt. Sie ist Ausbilderin für Audiopädie im In- und Ausland.



Literatur

1 Rudolf Steiner: Meditativ erarbeitete Menschenkunde, 2. und 3. Vortrag (1920). In: Ders.: Erziehung und Unterricht aus Menschenerkenntnis, GA 302a, Dornach 41993, S. 25ff.

2 Ebenda, S. 29

Foto: Vitolda Klein/Unsplash


Der Beitrag erschien in erWACHSEN&WEREN 10/23

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