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WEGE ZUM MÄRCHEN

EINE METHODE, UM MÄRCHEN ZU LERNEN UND BETRACHTUNGEN ZUM MÄRCHEN „DIE WEISSE TAUBE“


Von Judith Ebbing


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Meine Freundin lebt seit über vierzig Jahren mit Märchen. Sie ist Märchenerzählerin. Eine existentielle innere Not hatte sie damals dorthin geführt. Und der Prozess des Märchenlernens in Verbindung mit Aussagen Rudolf Steiners öffnete ihr einen Zugang zu ihrer eigene Sprache, den sie so lange gesucht hatte.


Wenn sie heute, 80-jährig, zu ihrem monatlichen Märchen-Sonntag für Erwachsene einlädt und eine kleine Einführung gibt, entstehen im Hören des Märchens und dann im Gespräch wahre Offenbarungen. Die Bilder werden im Lauschen lebendig. Sie sprechen sich aus, und damit das Urbild, das ich selbst in mir trage. Jeder von uns.


Wenn ich diese Urbilder durch das lauschende Mitgehen in die eigene Lebendigkeit hineinhole, dann wandelt sich das Innere in ein goldenes, licht-strahlendes Schloss, das aus Wahrheit besteht.


Verjüngt, erfrischt und neu angeschlossen an den lebendigen und heilenden Geist, gehen die Gäste reich beschenkt für den Alltag nach Hause.


Das erzählte sie mir neulich:

„In der materialistischen Zeit des reinen Intellekts geht es darum, Wege zu finden, um noch an eine imaginative Welt heranzukommen, die uns verloren ging. Es geht darum, die Imaginationsfähigkeit neu zu erüben, unserer Gesundung wegen! Sie führt uns von der Wahrnehmung des Märchen-Bildes über eine neue Art des anschauenden Denkens zum Wahrnehmen der Charakteristik der aktuellen Situation in der Welt und im eigenen Leben. Wenn wir das üben, werden wir fähig, eigene und lebendige Worte für das Wesen des Menschen zu finden. Es entwickelt sich die Fähigkeit, das Alltägliche in eine lebendige neue und wahrhaftige Sprache zu dolmetschen. Auch treten die Wechselspiele hemmender und fördernder Kräfte für die menschliche Entwicklung deutlicher hervor.


Wenn die innere Not am größten ist, dann setz’ dich hin und lern’ ein Märchen. Es gibt Methoden, um schnell lernen zu können, hier ist eine:


Ein Weg zum Lernen
  • Jeden Abend, bevor ich schlafen gehe, lese ich ein Märchen laut sprechend vor.


  • Am anderen Tag einen Absatz nehmen und eine halbe Stunde diesen Absatz fünf bis sieben mal lesen, damit er sich verfestigt und vertieft.


  • Abends das ganze Märchen wieder laut lesen.


  • Am nächsten Tag das schon Bearbeitete lesen und den folgenden Absatz anschließen. Auf den neuen Absatz den Schwerpunkt legen und wie mit dem ersten verfahren: Fünf bis sieben Mal eine halbe Stunde laut lesen.


  • Und so fort. Einen Mondzyklus lang.


Dadurch, dass ich es rhythmisiere, passiert etwas in den tieferen Schichten der Seele. Es ist wie mit einem guten Bissen, der schmeckt mir gut, aber ich weiß nicht, was in der Tiefe im Verdauungsprozess passiert.“


Einige Märchen habe ich auf ihre Empfehlung hin auf diese Weise zu mir genommen – und ich kann nicht anders, als das, was sich in der Beziehung zwischen mir und dem Märchen ereignet, mit Liebe zu bezeichnen.


Für mich hat es sich als ideal erwiesen, mit Neumond zu beginnen. Und wenn das Märchen verinnerlicht ist, nicht aufzuhören bis zum nächsten Neumond. Es ist hilfreich zu wissen, dass das gesamte Märchen mit allen Figuren, Wesen, Landschaften und Handlungen man selbst ist, der ganze Mensch. Es regt Ahnungen und staunendes Fragen an den Geist der Welt an und gibt Impulse, die in weitere künstlerische Betätigungen fließen wollen. Es wächst seine Lebendigkeit weiter. Die Märchen haben Samenkraft.


Grimms Märchen - Die weiße Taube 1

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Vor eines Königs Palast stand ein prächtiger Birnbaum, der trug jedes Jahr die schönsten Früchte, aber wenn sie reif waren, wurden sie in einer Nacht alle geholt, und kein Mensch wusste, wer es getan hatte. Der König aber hatte drei Söhne, davon ward der jüngste für einfältig gehalten, und hieß der Dummling; da befahl er dem ältesten, er solle ein Jahr lang alle Nacht unter dem Birnbaum wachen, damit der Dieb einmal entdeckt werde. Der tat das auch und wachte alle Nacht, der Baum blühte und war ganz voll von Früchten, und wie sie anfingen reif zu werden, wachte er noch fleißiger, und endlich waren sie ganz reif und sollten am andern Tage abgebrochen werden; in der letzten Nacht aber überfiel ihn ein Schlaf und er schlief ein, und wie er aufwachte, waren alle Früchte fort, und nur die Blätter noch übrig.

Da befahl der König dem zweiten Sohn ein Jahr zu wachen, dem ging es nicht besser als dem ersten; in der letzten Nacht konnte er sich des Schlafes gar nicht erwehren, und am Morgen waren die Birnen alle abgebrochen.


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Endlich befahl der König dem Dummling ein Jahr zu wachen, darüber lachten alle, die an des Königs Hof waren. Der Dummling aber wachte, und in der letzten Nacht wehrt’ er sich den Schlaf ab, da sah er, wie eine weiße Taube geflogen kam, eine Birne nach der andern abpickte und forttrug. Und als sie mit der letzten fortflog, stand der Dummling auf und ging ihr nach; die Taube flog aber auf einen hohen Berg und verschwand auf einmal in einem Felsenritz. Der Dummling sah sich um, da stand ein kleines graues Männchen neben ihm, zu dem sprach er: „Gott gesegne dich!“ – „Gott hat mich gesegnet in diesem Augenblick durch diese deine Worte“, antwortete das Männchen, „denn sie haben mich erlöst, steig du in den Felsen hinab, da wirst du dein Glück finden.“


Der Dummling trat in den Felsen, viele Stufen führten ihn hinunter, und wie er unten hinkam, sah er die weiße Taube ganz von Spinnweben umstrickt und zugewebt. Wie sie ihn aber erblickte, brach sie hindurch, und als sie den letzten Faden zerrissen, stand eine schöne Prinzessin vor ihm, die hatte er auch erlöst, und sie ward seine Gemahlin und er ein reicher König, und regierte sein Land mit Weisheit.


Die weisse Taube - Eine Übersetzungs-möglichkeit

Wenn ich das ganze Märchen bin, dann trage ich ein Königtum in mir. Vor meinem Palast sprießt das Leben, Früchte reifen, werden aber in der Nacht vor der Ernte gestohlen. Wer ist der Dieb meiner Lebensfrüchte? Der König versammelt die Kräfte meiner Vergangenheit in sich. Er hat drei Söhne, in ihnen wirken die aus der Zukunft kommenden Entwicklungskräfte. Mein alter König, das alte Selbst, schickt die jungen, sich entwickelnden Kräfte seiner Seele hinaus, das Rätsel zu lösen. Gleich sehen wir, dass sie, indem sie bereit sind, sich aufzumachen, Zukunft schaffen. „… da befahl er dem ältesten, er solle ein Jahr lang alle Nacht unter dem Birnbaum wachen, damit der Dieb einmal entdeckt werde. Der tat das auch und wachte alle Nacht…“


Der erste Sohn wacht ein Jahr alle Nacht unter dem Birnbaum. Er ist im Stande, den Jahreszyklus, in dem Werden und Vergehen ineinanderwirken, zu schauen. Aber die volle Reife kann er nicht schauen, dieser Prozess übermannt ihn und er schläft ein. Ebenso ergeht es dem zweiten Sohn. Nach zwei Jahren des nächtlichen Übens der älteren Brüder, nachts zu wachen, ist der dritte an der Reihe. Er ist vollkommen anders als seine Brüder und auch als alle, die an des Königs Hof waren. Sie verstehen seine Weise zu sein nicht, verspotten ihn und nennen ihn den Dummling. Wie sind seine Seelenkräfte, sein Denken, sein Fühlen und sein Wollen beschaffen? Er sieht ebenfalls in die Nacht. Das ist das Verborgene in mir. Er verfolgt die Seelenprozesse durch den Jahreslauf, wie seine Brüder, und seiner Art des Willens ist es verdankt, dass er im heiligsten Moment, da die Birnen reif sind, sich des Schlafes erwehrt. Er bleibt wach und sieht eine weiße Taube geflogen kommen, die Birnen abpicken und forttragen. Das verfolgt er bis zur Letzten. Er greift nicht ein, lässt es geschehen. Er setzt sich in Einklang mit dem, was er wahrnimmt. Dann steht er auf, als die weiße Taube die letzte Birne abgepickt hat und folgt ihr nach.


Wo bin ich denn, wenn ich die innere Entwicklung nicht mehr nur anschaue, sondern aufstehe und der weißen Taube nachgehe? Was geschieht? Wie ist das für meine Dummlingskraft? Er findet einen hohen Berg vor, auf den die Taube flog und auf einmal in einem Felsenritz verschwindet. Wenn ich das ganze Märchen bin, dann ist der hohe Berg mein Kopf. Bei Neugeborenen ist dieser Felsen zu den Sternen hin noch offen, bei uns sucht sich die Taube einen Ritz. Welche Haltung hat der Dummling wohl, wenn er das Geschehen betrachtet? Zuerst der Anblick der Taube. Dann ihre unermüdliche Arbeit zu erleben, alle Birnen abzupicken und fortzutragen! Nun steht er in einer bisher unbekannten Landschaft, sieht den Berg, sieht, dass die Taube darin mit der letzten Birne verschwunden ist. Ich würde sagen, er staunt. Er wird Zeuge eines wundersamen Geschehens in dem er frei von Eigenwillen, aber voller Interesse wahrnimmt.


Und wie er sich umschaut „stand ein kleines graues Männchen neben ihm, zu dem sprach er: ‚Gott gesegne dich!‘“ Ehrfurchtsvoll tritt er dem grauen Männchen entgegen und entrichtet seinen Gruß: Ich bitte Gott, dass er Dich segnen möge! Er hat auf eine Weise geschaut, die erkannt hat, dass sein Gegenüber der Erlösung bedarf. Das kann nur ein mitfühlendes Herz. Und das graue Männchen antwortet: „Gott hat mich gesegnet in diesem Augenblick durch diese deine Worte. […] Denn sie haben mich erlöst.“


Der Dummling nimmt also eine Stellung in dem ganzen Geschehen ein, die Segen bringt und durch die Erlösungskraft strömt. Das alles geschieht im dritten Jahr des Wachens meiner drei Söhne. Wovon muss das graue Männchen denn erlöst werden? Wer hat es verwünscht? Wieso kann der Dummling es erlösen? Auf jeden Fall ist es nun bereit und in der Lage ihm den Weg zu weisen: „… steig du in den Felsen hinab, da wirst du dein Glück finden.‘“ Woher weiß das graue Männchen das? Wenn mein Dummling es erlösen kann und es weiß, wo ich mein Glück finde, dann deutet das auf eine enge Beziehung hin.


„Der Dummling trat in den Felsen...“ Nun ist er dort, wo das Gedankenleben stattfindet, „viele Stufen führten ihn hinunter...“ er durchschreitet den Brustbereich, wo Atem und Herzschlag das Gespräch des Fühlens führen, „… und wie er unten hinkam …“, ganz unten in den Stoffwechselbereich, wo der Wille wohnt, „sah er die weiße Taube ganz von Spinnweben umstrickt und zugewebt.“ Dort hat sie die Früchte hingetragen! Von denen ist aber nun nicht mehr die Rede.


Was haben die Lebensfrüchte mit dem Willen zu tun? Ist der Wille selbst die Frucht? Eine aus Sonnenlicht und Sonnenwärme hervorgelockte, goldstrahlende süße Birne? Schließlich trägt sie den Keim zu neuem Leben in sich. Warum musste die weiße Taube sich einspinnen lassen und dort unten unfrei sein?


Gleich wird Erlösung stattfinden, wenn er unten angekommen sein wird und sie ihn erblickt. Wie kann aber der Anblick des Dummlings ihr die Kraft verleihen, durch die Spinnwebfäden hindurchzubrechen? Was trägt er in sich, das sie erlöst?


Welche Erfahrungen er bei seinem Abstieg durch den hohen Berg und durch seine Herz-Lungen-Region machte, berichtet das Märchen nicht, aber den Gewinn seiner Erfahrungen trägt er in sich, als ihn die weiße Taube erblickte. Er war Zeuge geworden von seinem Gedanken- und Gefühlsleben und entschlossen, weiterzugehen, nicht umzukehren. „… viele Stufen führten ihn hinunter, und wie er unten hinkam, sah er die weiße Taube ganz von Spinnweben umstrickt und zugewebt.“ Er betritt den Willen. Aus was besteht er?


Motive bilden seine Substanz, zu Deutsch: Beweggründe! Dieser Begriff zeigt es selbst: Jetzt steht er mit seinem Bewusstsein auf dem Grunde seines Wesens, von wo der Antrieb für all sein Handeln kommt. Er erkennt nun seine allen Taten zugrunde liegenden Motive.

„Wie sie ihn aber erblickte, brach sie hindurch...“


Der Dummling ist seiner reinen Seele auf dem tiefen Grund begegnet. Sie fühlt sich von ihm erkannt. Eine Kraft strömt, die Spinnweben zu durchbrechen! Es muss die höchste aller Kräfte sein. Der Dummling sträubt sich vor den Tatsachen nicht, die er in Berg, Brust und tiefem Grund kennengelernt hat, er nimmt an, was er vorfindet und hat Mitgefühl gegenüber dem, der sich aus Irrtümern und Abirrungen hinderlich in die Welt verstrickt hat.


„… und als sie den letzten Faden zerrissen, stand eine schöne Prinzessin vor ihm, die hatte er auch erlöst...“ Mein höheres Selbst hält Hochzeit mit meiner reinen Seele, „… und sie ward seine Gemahlin und er ein reicher König, und regierte sein Land mit Weisheit.“


Wie reich er ist! Er ist sich seiner selbst bis in die Tiefen seiner Seele bewusst. Er hat seinen unzerstörbaren Wesenskern gefunden und erlöst. Jetzt geht er vermählt mit ihm durch das Leben. Ein neues Königreich entsteht. Die Welt erstrahlt für ihn im wahren Licht, das gewöhnlich von der Materie überdeckt wird. Nun kann er sein Königreich weise regieren.


Es scheint ein Gesetz zu sein, dass die höchste Kraft in uns wirksam werden kann und will. Und dass sie aus dem alten und zu einem Ende gekommenen Königtum ein neues auferstehen lässt, sobald wir bereit sind, die Bedingungen dafür herzustellen. Der Dummling zeigt uns, wie es geht.


Die Antwort der Freundin

Postwendend erhielt diese Märchenübersetzung eine Antwort der Freundin mit den Worten: „Etwas wollte zum Vorschein kommen.“


"Erst, als ich deine Flügel sah, du Geist in der finsteren Nacht, da wusste ich, warum meine Früchte gereift waren, mühsam. Im alten Königtum noch reiften sie natürlich, im neuen bewusst werdend im Dreifaltigkeitsdenken, drei Jahre wachend, um zum Christus emporzureifen, versenkt sich die geistige Taube in den Fels; sie versenkt sich in die hohe Erkenntnis „auf dem hohen Berg". Hier an der Schwelle will der „Hüter der Schwelle", der noch graue Unbekannte erkannt werden am Stufengang in die Tiefe. „Gott gesegne dich" ist das Lösungswort, die Erlösung, die uns in unsere eigene Tiefe verweist. „Ganz unten", wo es nicht weitergeht, findet Wandlung statt. Die geistige Seele ist noch in Spinnwebfäden verstrickt. Mein Weg in diesen Tiefengang lässt alle Verstrickungen, alles Versponnene sichtbar werden. Ansichtig werde ich meiner geistigen Seele, der Weisheit, meine Sophia. Wir sind verbunden und werden den Weg gehen. Wie Christus die Taufe erfährt am Jordan. Aus diesem geistigen Höhen- und Tiefengang vollzieht sich Auferstehen. Die königliche Hochzeit, Geist und Seele haben sich auf Erden gefunden…"

 

Hannelie Latsch, * 1945, ist Witwe, dreifache Mutter und vierfache Großmutter, war Chefsekretärin bei Thyssen und ist seit jungen Jahren aktiv in anthroposophischen Initiativen, begonnen als Schülerin von Otto Landau, persönlicher Schüler von Rudolf Steiner, der auch Joseph Beuys inspirierte. Biographie- und Märchenarbeit ziehen sich als roter Faden durch ihr Leben.


Bilder von Sulamay Fillinger, https://sulamay.de/


 

Judith Ebbing ist Krankenschwester und Heilpädagogin. www.das-kleine-kind.de

 


1 Nur in der 1. Auflage der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm von 1812, S. 294-296, unter der Überschrift „Von dem Dummling“ enthalten, zusammen mit „Die Bienenkönigin“, „Die drei Federn“ und „Die goldene Gans“, Verlag und Druck: Realschulbuchhandlung Berlin.

Weitere Dummlings-Märchen: www.das-kleine-kind.de/maerchen.


Buch-Empfehlungen von Hannelie Latsch: Rudolf Steiner, Die Welt der Märchen, ausgewählte Texte, herausgegeben von Almut Bockemühl, Rudolf Steiner Verlag, Basel 2006.

Wilfried Kessler, Der moderne Geistesweg oder der Dummling in den Volksmärchen, Books on Demand, Norderstedt, 2023.


Beat Frei, Das Volksmärchen und die Entwicklung des Herzdenkens, Novalis Verlag, Neukirchen 2017.


Dieser Beitrag erschien in erWACHSEN&WERDEN 10-25

 


Judith Ebbing



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